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PALMBAUM e.V. - Zeitschrift

»Palmbaum ~ Literarisches Journal aus Thüringen«
Leseproben:

Palmbaum-Redaktion
Editoral

Weimarzentrismus – so lautet ein beliebter Vorwurf gegen alles, was aus Weimar oder dessen Umfeld kommt. Wie die Literarische Gesellschaft, die an der Ilm ihren Sitz hat, oder der Palmbaum, der im Nachbartal wurzelt. Natürlich nervt es auf die Dauer, wenn ein Ort seit 200 Jahren behauptet, die Literaturhauptstadt der Deutschen zu sein und dabei permanent mit alten Karten spielt.
Als sei Alter an sich schon ein Wert. Oder geht es um etwas anderes? Was zieht die Leute wieder und wieder in diese Stadt? Die Sehnsucht nach einer verlorenen Harmonie? Die es niemals gab in diesem Musendorf, wo man um 1800 noch Kühe durch die Gassen trieb, wo ländliche Armut mit kulturell ambitionierter Hofhaltung Hand in Hand ging. Weimar, das heißt „ideell“, immer wieder über die Grenzen des Bestehenden hinaus zu drängen. Und Weimar heißt auch, reell, immer wieder mit hochfliegenden Plänen Schiffbruch zu landen, eingeholt zu werden vom „durchaus Scheißigen“ der irdischen Verhältnisse, wie es Goethe in seinen jüngeren Jahren auf den Punkt zu bringen pflegte.
Die folgenden Beiträge bewegen sich zwischen den Polen des ideellen und des realen Weimar. Sie laden zu erneuter Sicht auf scheinbar Altbekanntes ein und wollen Neugier auf das kommende Weimar wecken, das sich im Hier und Heute wandeln muss. Dass dieser Wandel sich nur im politischen Raum vollziehen kann, haben die vergangenen Monate seit dem letzten Heft deutlich gemacht. Die Diskussionen um die Finanzierung des Kulturstandortes Thüringen, und darüber hinaus die Verfassungs-Debatte um Kultur als „Pflichtaufgabe“ des Staates generell, halten unvermindert an. Der Palmbaum hat in Heft 2/06 mit einem Essay von Peter D. Krause zum inhaltlichen Streit aufgerufen: Welche Kultur wollen wir um welchen Preis? Im vorliegenden Heft stehen erste Erwiderungen. Mögen sie den nötigen Widerspruch provozieren.
Das nächste Mal wollen wir das Netzwerk literarischer Ort nachzeichnen, das die Thüringer Landschaft wie kaum eine andere mit ungeheurer Dichte über Jahrhunderte hinweg durchzieht. Weimar wird dann wieder nur ein Punkt unter vielen sein...
...

Jens-Fietje Dwars

Aus: Palmbaum ~ Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 1/2007


 

Matthias Biskupek
Der Theaterdonnerer
Erwiderung auf Peter D. Krauses „Rhetorische Kultur – Bekenntnis zum Anachronismus“ (PALMBAUM 2/2006)


I

Es ist wunderbar, wenn ein Landtagsabgeordneter sich zu Fragen der Kultur und deren Förderung essayistisch äußert. Es ist ver-wunderlich, wenn dies so altbacken geschieht. Ärgerlich wird es, wenn eine für den „Bekennenden Anachronisten“ von vornher-ein feststehende These bloß illustriert wird. Krauses Rede näm-lich heißt: Die 68-er haben die Kultur zerstört und jetzt müs-sen wir (Konservativen) just dies bezahlen.


Hochkultur

Krause etikettiert heutige Theaterarbeit mit „Hochkultur“. Wenn er nichts vom Theater weiß, so weiß er offensichtlich auch we-nig vom Leben. Hat er bei Jünger und Nietzsche nichts davon ge-funden? Oder hat er nur flach gelesen?
Erinnern wir uns: Vor zwei-, dreihundert Jahren entstanden in vielen Residenzen, besonders im kleinteiligen Thüringen, Stadt-theater. Repräsentanten des Kunstwillens von Fürsten, aber auch einer selbstbewußten Bürgerschaft. Die spielten ihre Klassiker, ihre Naturalisten und ihre Zeitgenossen: nicht immer auf höch-stem Niveau, aber immer mit Einsatz. Der legendäre Striese sprach mit viel Gefühl und sächselndem Tonfall.
In den jüngsten Jahrzehnten aber wandelten sich diese Stadt-theater. Von Repräsentanten-Tempeln einer wie auch immer gear-teten Hoch-Kultur wurden sie zu soziokulturellen Zentren. Sie organisierten und bündelten das geistige Leben für ihre Leute: für Schulen und Unis, Betriebe und Vereine. Spiele für und von Kindern, Seniorennachmittage, Jugendclubs und Diskussionsforen neuer Ideen. Die Stadttheater wurden Brennpunkte geistiger Strömungen. Auch die Kirchen profitierten mit ihren Messen und Adventsmusiken von den Berufsorchestern der Theater – und nicht zuletzt waren die alten Musentempel zu beachtlichen Arbeitge-bern der neuen Regionen geworden.
Dann aber schlug in Thüringen der Sparbeschlusshammer auf die herausragenden Köpfe dieser Theater nieder: Effektivität durch Kooperation. Schöne, große Häuser sollten von ihren Machern be-freit werden – und eine Theaterversorgung möglichst zentral ge-regelt werden. Als gute Gabe von oben.
Doch siehe, den Menschen der Region, den Provinzialisten schie-nen ihre Theater nicht nur lieb, sondern sogar teuer. Die an-scheinend so biedere Provinz erwies sich als geistig und finan-ziell regsamer, als das führungsschwache Zentrum. Beginnend mit den Trägern des Theaters Rudolstadt und seiner Thüringer Sinfo-niker nahm man den Ministerpräsidenten beim Wort. Der nämlich hatte in einer seiner vielen schwachen Stunden verkündet: Wenn lokale Träger mehr Geld geben, schießen auch wir zu.
Weimar, Gotha, Nordhausen, Eisenach, Suhl – die Städte und ihre Vertreter regten sich und wollten es pflegen: ihr Kultur-Erbe, das eben nicht nur als Erbe verstanden wird, sondern als quick-lebendiger Kultur-Raum. Voller dort arbeitender Menschen, die Städten ihr Gesicht geben, Jugendlichen eine Perspektive und die Mär von provinzieller, beschränkter, nationaldumpfer Klein-städterei ad absurdum führen.
Doch die Landesregierung gibt zwar gern Millionen Fördergelder zum Erhalt von ein paar Dutzend Arbeitsplätzen in ein paar Be-trieben der global players. Nichts aber gelten ihr Hunderte und Tausende von engagierten Kulturbürgern, die ihre uralten Musen-tempel unbedingt behalten wollen: als moderne, von den eigenen Bürgern betriebene Herzkammern eines selbstbewußten, regionalen und weltoffenen Kulturlebens.
Und so wird zerstört, was krauses Bestimmerdenken stört. Denn wer die Macht hat, rechnet sich die Welt schön.


Milchmädchenrechnungen

Immer wieder werden Theaterzuschüsse in Euro und Cent angege-ben. Jede Karte werde mit 125 Euro subventioniert. Beim Reprä-sentationstempel des Ministerpräsidenten, der Erfurter Oper, ist es übrigens mehr. Jeder Bürger bekomme ohnehin – von guten Regierungsparteipatrioten? – 29 Euro für Theater geschenkt.
Wo aber bleibt jene Rechnung? Für den Bau einer Ortsumgehungs-straße wird jeder Dorfbewohner mit ein paar zehntausend Euro subventioniert. Blödsinn? Richtig – wie Theaterzuschussrechnun-gen.
Krause und seine Parteifreunde - jene von der DDR-Vorgängerpartei CDU – erzählen immer wieder von den „Geberlän-dern“, die Thüringens Kultur subventionierten. Und vorm Grimm und Hohn dieser „Geberländer“ muss der Ministerpräsident Thü-ringens geschützt werden, wenn er demnächst vielleicht doch im Bundeskabinett sitzen will.
Wie verteilen sich Geben und Nehmen wirklich? Eine hochmoderne Fabrik in Thüringen nimmt hiesige Arbeitskräfte (sofern nicht gerade den Geschäftsführer), hiesige Luft für ihre Rußpartikel, hiesiges Wasser zum Erwärmen, hiesige Straßen für ihre Trans-porte und verkauft ihre Produkte natürlich auch den Hiesigen, deren Geld sie dafür nimmt – Gewinne und Steuern aber gibt sie den Landesvätern Bayerns oder Hessens. Weil sie juristisch dort im gemachten Nest sitzt. Und die „Geberländer“ wehklagen dann mit der Stimme des Peter D. Krause, dass sie ihr letztes Hemd den Thüringern schenken und deshalb ihre Kunst nackich geht.
Umgekehrt: Wenn ein Thüringer Theater im fernen deutschen Süden oder Westen spielt, so gilt das als Einnahme für das jeweilige Theater. Ein paar tausend Euro. Die Eintrittskarten für die je-weilige südwestdeutsche Stadthalle werden dort kostendeckend verkauft – und alle sind’s zufrieden. In Wirklichkeit aber ha-ben in einem solchen Fall die Thüringer Steuerzahler das süd-westdeutsche Theaterereignis subventioniert. Denn die wirkli-chen – und nicht geringen – Kosten fallen am Theaterstandort an.


Sprechblasen

„Die moralisierende Affekterregung ist ein zentrales Element politischer Hermeneutik.“ „Die Hypermoralisierung (?) der ver-öffentlichten Meinung ist das Ergebnis der Entrealisierung des Politischen.“ „Institutionen, (die) lustvoll-suizidal geschlif-fen werden oder worden sind, soll der Staat nun alle (finanzi-ell) substituieren. Als letzte Institution soll er rasant wech-selnde neue Systeme und viele Anachronismen stützen“.
Ob die Systeme wirklich schnittig wechseln, weiß ich nicht – immerhin wusste Friedrich Nietzsche noch, dass mit „rasant“ keineswegs „rasend schnell“ gemeint ist. Ein Bildungszögling der grauenhaften DDR muss das natürlich nicht mehr verstehen – es genügt, wenn er Hans Magnus Enzensberger in falschem Zusam-menhang zitiert. Enzensberger, der völlig richtig feststellt: „Wer Theater spielen, Installationen hervorbringen oder Ge-dichtbände schreiben will, sollte sich darüber im klaren sein, dass er sich auf höchst riskante Tätigkeiten einlässt.“ Diese höchst riskanten Tätigkeiten werden von Enzensberger aber nicht nur als finanziell riskant gesehen – wer Kunst macht, setzt sich mit seinem Leben ein. Er beschädigt sich, er zerfleischt sich, er frisst in sich hinein, schenkt sich weg und gibt sich hin. Und deshalb ist Enzensbergers Schlussfolgerung, Kunst vom Beamtenrecht zu trennen, richtig. Doch nicht, wie Peter D. Krause glaubt, wegen „der rasanten (!) gesellschaftlichen Ver-änderungen, wegen der fehlenden kulturellen Dissidenz gegenüber der Dekadenz“, sondern weil es doch merkwürdig ist, dass aller-orten Beamte oder ähnlich hochdotierte und finanziell gut abge-sicherte Demokratievertreter über das Geld für die Kunst bestimmen. Geld, das nicht ihres ist – auch wenn sie sich für jede „Zuwendung“ gern medial feiern lassen.
Drum wäre es hilfreich, wenn diese Kunstregulatoren – ich kann hier weder auf Jünger, Ernst oder Friedrich, noch auf Ortega y Gasset verweisen, sondern bloß auf Friedrich Gerstäckers „Die Regulatoren von Arkansas“ - ein paar Segnungen der Kunst für sich entdeckten. Und sei es, dass sie Essays in klugem und schönem – nicht rhetorischem - Deutsch schrieben.


 

Friedrich Schorlemmer
Das Feld der Ehre und die Ährenfelder
Zur Erinnerung an die Schlacht von Jena und Auerstedt


I

Die Geschichte der Menschheit, bis an unsere Urgründe und Ursprünge zurückverfolgt, beginnt in den Büchern des Alten Testaments nicht nur mit einem Brudermord, sondern auch mit der Konkurrenz zwischen zwei Lebensweisen: nämlich dem nomadischen Viehzüchter Abel und dem sesshaften Landmann Kain, der seinen Blick verfinstert, seinen Kopf senkt, also dem anderen nicht frei in die Augen sieht und über den etwas Böses herrscht, bis er sich selbst vergisst.
Da sagt Kain zu seinem Bruder: „Komm, lass uns aufs Feld gehen.“ Damit beginnt der ganze Menschheitsschlamassel. Seither schreit das Blut der toten (Menschen-)Brüder aus der Erde, dem Ackerboden, dem Felde der Feldschlachten, der verordneten Schlächtereien.
Menschen werden aufs Feld geschickt, um die Ähren zu ernten oder die Ähren zu lesen. Menschen werden aufs Feld geschickt zur Schlacht, zum Schlachten, zum Abschlachtwettbewerb mit dem Kürzel „Krieg“. Das Kampffeld soll das Bewährungsfeld werden. Am Schluss werden Leichen abgelesen, statt die Ähren zu lesen. Danach werden Steine aufgerichtet. Zur Erinnerung an „unsere Helden.“
Nach der Schlacht von Jena und Auerstedt wurde die gesamte eingebrachte Ernte vernichtet. Und doch bleibt die große Menschheits-Vision: die von der endgültigen Verwandlung von „Schwertern zu Pflugscharen“. Das ist die große Konversion, vor der jede Generation wieder neu steht: dass die Schwerter, die Blut bringen, zu Pflugscharen werden, die Leben bringen. Brotkörner statt Schrotkörner. Und Winzermesser für den Wein, statt Spieße in den Bauch.
Krieg – ein typisch männliches Bewährungsfeld? Endlich heraus aus der Langeweile des Alltags. Etwas Großes geschieht. Der Kriegsgott als Gott der Stärke, der Männlichkeit, Tapferkeit, Unerschrockenheit. Lebenslang wird davon erzählt. Hier kommen männliche „Tugenden“ zum Tragen – im ewigen Streit zwischen dem Lebenskonzept „Sparta“ und dem von „Athen“. Der „Herr der Heerscharen“ steht Pate, – oder Jupiter und Mars. Da geht es um Gehorsam, (Todes-)Mut, Kameradschaft und Liebe zum Vaterland, die man mit seinem eigenen Blut auf dem „Feld der Ehre“ bezahlt.
Das Feld: Das Getreidefeld, das Landefeld, das Ruhefeld, das Kräftefeld, das Erntefeld, das Schlachtfeld, das Flachfeld, das Brachfeld, Sehfeld, das Eckfeld, das Blickfeld, das Kartoffelfeld, das Spielfeld, das Zielfeld, das Stoppelfeld, das Riesenfeld, das Wechselfeld, das Mittelfeld, das Kohlfeld, das Rollfeld, das Erdölfeld, das Rübenfeld, das Grubenfeld, das Roggenfeld, das Birkenfeld, das Kohlenfeld, das Minenfeld, das Wappenfeld, das Ährenfeld, das Gartenfeld, das Weizenfeld, das Steinfeld, das Kornfeld, das Haferfeld, das Experimentierfeld, das Exerzierfeld, das Ackerfeld, das Trümmerfeld, das Mauerfeld, das Manöverfeld, das Angriffsfeld, das Spannungsfeld, das Versuchsfeld, das Kolchosfeld, das Schussfeld, das Gefechtsfeld, das Gesichtsfeld, das Arbeitsfeld, das Tätigkeitsfeld, das Saatfeld, das Magnetfeld, das Kampffeld, das Schlachtfeld, das Sportfeld, das Blutfeld, das Kollektivfeld, das Toleranzfeld, das Sturzfeld, das Feld ...
So viel mal Feld! Mythisch geworden das Amselfeld, das Lechfeld, das Totenfeld vor Verdun, die Felder im Kursker Bogen, die Seelower Höhen. Wie viel mal Feld! Wie viel mal Friedensfeld, wie viel mal Kriegsfeld, wie viel mal Erkenntnisfeld, wie viel mal Sackgasse?
In der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts blieben sie „für Gott, König und Verland“ auf dem Felde. Sie starben angeblich „für uns“. Und als Helden, selbst in der Niederlage.
Ich habe in meiner Kinderzeit immer wieder den Satz gehört: Der Vater, der Bruder oder der Ehemann seien „im Felde geblieben“ oder sie seien „gefallen“. Das ist verharmlosende, verschleiernde Sprache, die sich nicht zutraut, zu sagen, was ist. Sie wurden erschossen, erwürgt, verkamen in dem Grauen mörderischen Schlachtens. Begräbnisrituale für getötete Soldaten setzen immer wieder das Schwülstige über das Blutige.
Man verfolge nur das Gedenken an die getöteten Soldaten im Irak oder in Afghanistan und erinnere sich auch an das, was die Russen nach ihrem Einmarsch 1980 dort vorexerziert haben. Immer wieder kommt die religiöse Legitimation oder die geistige Munitionierung der Kriege auf. Denen, die einen geliebten Menschen verloren haben, muss wenigstens ein Sinn suggeriert werden – am besten einer, der mit der Ewigkeit zu tun hat.
So werden betende Amerikaner mit Abendmahlskelch gezeigt, die im März 2003 in die Schlacht gegen des Diktators Anhänger gehen – ganz so, wie wohl die Iraker, die sich ihres Allahs, des Einzigen und Allmächtigen, erinnerten und vergewisserten, ehe sie die ungläubigen Eindringlinge zurückzuschlagen versuchten.
Wer über Krieg und Frieden nachdenkt und offen spricht, kommt selber ins Minenfeld. So äußerte sich die Irak-Kriegsbefürworterin Angela Merkel und ungetrübte Freundin des amerikanischen Präsidenten Bush, dass man aus dem Irak-Krieg die Lehre ziehen müsse, dass es schlecht ist, wenn man nicht mit einer Stimme spricht. Ich frage, mit welcher? Mit der Bushs? Sie sagte nichts über den Irak-Krieg und seine unabsehbaren Folgen oder dass der Lügen-Krieg vielleicht gar gezeigt hätte, dass Krieg keine Lösung ist und Prävention wesentlich vorbeugende, zivile Maßnahmen – auch entschlossene – meint und nicht, vorbeugend Krieg zu führen. Wer die militärisch-technischen Probleme zu lösen sich anschickt, ohne die geistigen und psychologischen und gar die sozialen mit anzupacken, sät nur neue Gewalt.
Die Bundeskanzlerin hat auch nicht gesagt, dass das Recht internationale Macht braucht, statt dass weiterhin eine Macht mit dem „Recht der Macht“ agiert. Zum 11. 9. 2006 kamen endlich andere Töne: „Nicht allein auf Gewalt setzen und das Völkerrecht achten“, sagte sie. Späte Einsicht, aber Einsicht – während Bush weiterhin den militärischen „Sieg über den Terrorismus“ anstrebt und verspricht. Es sei noch angemerkt, dass Angela Merkel in den Zeiten der gefährlichen Ost-West-Konfrontation zu den tapfer Schweigenden gehörte – statt bei den Problemen Abrüstung und Kriegsvermeidung, Abbau von Feindbildern und tödliche Ausschließlichkeitsideologien den Konflikt mit dem sogenannten Friedensstaat zu riskieren. Wer ihr heute deutlich widerspricht, kommt leicht in den Verdacht parteipolitischer Stellungnahme. Es ist wie immer. Wer sich zeigt, kriegt eins auf die Mütze. Man kann nur froh sein, dass die Differenz nicht in Kriegszeiten benannt wird; da kennen kritisierte Krieger kein Pardon.

II

Ein Blick zurück: 1806 hat Preußen auf den Feldern vor Jena und Auerstedt verloren, vernichtend – nach der für die Österreicher verlorenen Schlacht bei Austerlitz. Dieser Niederlage verdanken wir schließlich die Reform Preußens, aber auch die Geburt des deutschen Nationalismus in den Befreiungskriegen, der schließlich zu dem Krieg 1870/71 führte, wo die „Einheit in Blut und Eisen“ geschmiedet wurde. Sodann die Revanche, die Niederlage 1918 mit Demütigungsvertrag. Eroberung von Paris im Juni 1940 mit großem Pomp. Schließlich erneute Niederlage 1945.
Die Niederlage am 8. Mai 1945 war letztendlich für uns Deutsche eine Befreiung – so viel Leid sie auch für Deutsche in der Folge des anderen zugefügten Leides bedeutete. Und es gab Aussöhnung mit Frankreich, Polen und der Sowjetunion in Folge von Entspannungspolitik. Deutsche bewährten sich „auf dem Felde der Politik“, weil sie eben einsahen, dass Krieg stets Scheitern von Politik bedeutet und nicht Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln.
Wir Deutschen „verdanken“ der schließlich friedlich herbeigeführten, aber durchaus auch mit Rüstungskonkurrenz zustande gekommenen Niederlage eines Weltsystems, dass wir jetzt in Frieden und Demokratie in einem vereinten Europa leben.


III

Die bellizistische Tradition in der Kirche – insbesondere in der deutsch-protestantischen – ist tief verwurzelt. Da wird in einem Gebetbuch von 1705 von Seiner Königlichen Majestät vorzubeten verordnet: „Absonderlich wollest Du, o großer Gott, Deinem Gesalbten, unserem lieben Landesvater bei seiner Regierung geben ein weises Herz, königliche Gedanken, heilsame Ratschläge, gerechte Werke, tapferen Mut, starken Arm, verständige Räte, sieghafte Kriegsheere, getreue Diener und gehorsame Untertanen ... weil auch seiner Majestät Truppen und Armeen noch immer zu Felde ziehen müssen, so begleite Du sie, o Herr! mit der Wacht deiner heiligen Engel, berate sie vor Verräterei, Neid, Missgunst und Uneinigkeit.“
Strikter Untertanengehorsam war es, der dazu führte, dass die Heere auch „ordentlich“ ausrückten und möglichst sieghaft zurückkehrten.
In einer Predigt 1913 blickte Pfarrer A. Eckert auf 1806 zurück: „Es war Gottes Wille, dass unser Preußenvolk 1806 und 1807 gedemütigt wurde, und der Ruhm der preußischen Waffen bei Jena und Auerstedt erblasste. Dieses Volk musste durch ein Läuterungsgericht hindurchgehen, um zu neuen Höhen emporsteigen zu können. Und derselbe Gott, der das Volk in die Tiefen der Schmach geführt hatte, hob es mit starker Hand wieder in die Höhe. Als die Macht des Korsaren auf den Eisfeldern Russlands zerbrach, wurden unserem Volke die Augen aufgetan: ‚Das ist Gottes Finger!’, so ging es wie ein Schrei durch das Preußenvolk.“
Der Krieg als große Reinigung, als ein göttliches Läuterungsgericht, bis es dann doch wieder zu neuen Höhen kommt, eben durch militärische Siege – 1813 und 1870/71.
Es war das Pathos der Befreiungskriege, das im Nazismus trefflich genutzt werden konnte, insbesondere, wenn Deutschtümelei und Luthertum vermischt wurden, wie dies in Ernst Moritz Arndts „Vaterlandslied“ von 1812 geschah:

Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
der wollte keine Knechte.
Drum gab er Säbel, Schwert und Spieß
dem Mann in seine Rechte,
drum gab er ihm den kühnen Mut,
den Zorn der freien Rede,
dass er bestände bis aufs Blut,
bis in den Tod die Fehde.
...
Wir wollen heute Mann für Mann
mit Blut das Eisen röten,
mit Henkersblut, Franzosenblut –
O süßer Tag der Rache!
Das klinget allen Deutschen gut,
das ist die große Sache.

Auch solche Lieder wurden im protestantisch geprägten deutschen Reich natürlich in den Kirchen mit vaterländischer Inbrunst gesungen. Dieser Logik folgten die Kirchen- und Staatsführer in England, in Frankreich, in Belgien, in Russland. Allerchristlichste Sieges-Bitt-Lieder gegeneinander!
Dagegen steht die Hellsichtigkeit eines Erich Mühsam, der bereits im Februar 1914 in seiner Zeitschrift KAIN über das große Morden schrieb: „ Man schämt sich allmählich vor sich selbst, immer und immer wieder den moralischen Gemeinplatz aussprechen zu müssen, dass Krieg schlecht und hässlich, Friede gut, natürlich und notwendig ist. Aber wir wollen noch tausendmal die Gründe der anderen widerlegen, um vor der Nachwelt nicht in der lächerlichen Haltung solcher dazustehen, die vor Dummheit und Herzenskälte resignieren und kapitulieren. In diesem Zeitalter raffiniertester technischer Zivilisation gibt es für den Erfindergeist immer noch keine höheren Aufgaben als die Vervollkommnung der kriegerischen Mordinstrumente. Wessen Gewehre und Kanonen am weitesten schießen, am schnellsten laden, am sichersten treffen, der hat den Kranz. Das Scheußliche und Groteske gehen Hand in Hand durch das zwanzigste Jahrhundert und rufen die Völker auf zur Bewunderung der Weltvollkommenheit.“
Da schreibt einer am Anfang des 20. Jahrhunderts, was in schrecklicher Weise Wirklichkeit werden sollte. Dabei hätte wohl jeder denkende Mensch – mindestens seit dem Dreißigjährigen Krieg – wissen und begreifen können, was Krieg ist und was Krieg nicht nur aus der Welt macht, die er zerstört, sondern auch aus den Menschen, die an der Zerstörung teilhaben und mit gutem Gewissen oder gar „keckigem Mut“ andere töten, die eben nicht mehr Menschen sind, sondern Feinde: Franzosen oder Russen.
Mich beschäftigt seit meinen Kindertagen ein Widerspruch, den ich mir mit 14 Jahren – eine Browning mit 16 Schuss in der Hand – bewusst machte. Im Krieg ist Töten erfordert, und wer die meisten tötet, der ist der größte Held. In Friedenszeiten steht auf Mord die Höchststrafe. Und Töten im Krieg darf man nicht Mord nennen, denn er ist ja befohlen. Krieg ist also der zivilisatorische Ausnahmezustand, in dem Töten gerechtfertigt wird.
Der Theologe Günther Dehn, der in der Revanchestimmung Deutschlands 1930 Pazifist zu sein wagte, wurde von einer aufgebrachten Studentenschaft aus Halle an der Saale vertrieben. In diesem Zusammenhang schrieb Kurt Tucholsky 1931 seinen kleinen Essay „Der bewachte Kriegsschauplatz“, dessen eine Wortfigur bis heute die Diskussion aufwallen lässt: „Soldaten sind Mörder.“
Der Streit um diesen Satz ist bis heute nicht zu Ende. Tucholsky beklagt die Hetze gegen einen Professor Gumbel, der einmal „die Abdeckerei des Krieges ‚das Feld der Unehre’ genannt hat“. Er wies darauf hin, dass im Krieg zwei Wirklichkeiten nebeneinander bestehen, das normale bürgerliche Leben und der Kriegsschauplatz: „Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder.“


IV

Nicht nur die Kirchen der Welt seien daran erinnert, dass Papst Benedikt XV. bereits im Sommer 1915 den „Krieg als eine grauenhafte Schlächterei“ gegeißelt und davon gesprochen hatte, dass „Bruderblut das Land tränkt und das Meer färbt“. In einem inständigen Appell, in einem Aufschrei für den Frieden schrieb er: „Mögen bald Dankgebete für die Versöhnung der kriegführenden Staaten emporsteigen zum Höchsten, dem Schöpfer alles Guten; mögen die Völker, vereint in brüderlicher Liebe, den friedlichen Wettstreit der Wissenschaft, der Künste und der Wirtschaft wiederaufnehmen, und mögen sie sich, nachdem die Herrschaft des Rechts wiederhergestellt ist, entschließen, die Lösung ihrer Meinungsverschiedenheiten künftig nicht mehr der Schärfe des Schwertes anzuvertrauen, sondern den Argumenten der Billigkeit und der Gerechtigkeit, in ruhiger Erörterung und Abwägung. Das würde ihre schönste und glorreichste Eroberung sein.“
Dies sei dem friedenstauben George W. Bush – und allen Menschen! – ins Stammbuch geschrieben: Das Feld ist das Feld für die Ähren, die Brot bringen. Die Felder dürfen nicht zu „Feldern der Ehre“ depraviert werden, die mit dem vergossenen Blut auch neuen Hass bringen.
Wer 2006 vor den blühenden oder bereits abgeernteten Feldern von Auerstedt steht, der möge sich von Herzen des Friedens freuen und ein mitleidiges Lächeln für die meist dickbäuchigen Männer übrig haben, die gern in die alten Uniformen schlüpfen, um Krieg nachzustellen – vielleicht, weil sie in ihrer Kindheit nicht genug „Räuber und Gendarm“ gespielt und später ihren Kopf kaum angestrengt haben. Das Volk bleibt verführbar und entflammbar, zumal in jedem nationalen Rausch. Und es ist lenkbar auf die Wege des Friedens. Die Kämpfe werden auf den Fußballfeldern geführt und fair entschieden. Keiner bleibt auf der Strecke und jeder trauert oder freut sich mit seiner Nation – bis zum nächsten Spiel.
Aber Krieg ist kein Spiel. Er ist bitterster, allerbitterster Ernst. Krieg ist nicht zum Nachspielen geeignet. Keine Verniedlichung des Krieges, nachdem wir mit guten Gründen seine Heroisierung hierorts hinter uns haben!

Aus: Palmbaum ~ Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 2/2006


Peter D. Krause
Rhetorische Kultur
Bekenntnis zum Anachronismus

Waldgänger ist also jener, der ein ursprüngliches Verhältnis zur Freiheit besitzt, das sich, zeitlich gesehen, darin äußert, daß er dem Automatismus sich zu widersetzen und dessen ethische Konsequenz, den Fatalismus, nicht zu ziehen gedenkt.
Ernst Jünger (Der Waldgang)


In seiner Autobiographie Ich nicht erinnert sich Joachim Fest an seinen frankophonen Großvater: In dessen Bibliothek „standen in ehrfurchtsgebietenden Lederausgaben die meisten Klassiker des Nachbarlandes. Ich habe ihn manchmal im Auf und Ab vor seinem Schreibtisch Racine deklamieren gehört“.
Arnold Gehlen beschrieb vor Jahren schon die politische Kultur der Bundesrepublik als Dekadenz: als Unwilligkeit eines Volkes, die sachlich akuten Aufgaben zu sehen. Er forderte dazu auf, der „industriell-technisch-szientifischen“ Welt nicht auszuweichen und nach bewahrenden, aber realistischen Optionen in einer Welt der illusionären Politik zu suchen. Er sah, daß die Welt utopistisch und rhetorisch geworden war: Rhetorik schafft die Institutionen, da die Evidenzen fehlen.
Rhetorik ist seit der Antike der Begriff für die Theorie und Praxis der persuasiven Rede in öffentlichen und privaten Angelegenheiten. In der ars rhetorica sind die Gegenstände dreigeteilt unter dem Gesichtspunkt der Wirkung: in Leidenschaften, Charaktere, Fakten. Affekte vor allem konstituieren das rhetorische Überredungsverfahren. Wirkung zählt. Nicht Wahrheit. Permotio animi: Das Beeinflussen, Rühren, Erweichen war für die Alten die höchste Aufgabe des Redners, denn es vermöge am ehesten, die Entscheidungen zu lenken. Der Beweis tut gut, mächtiger noch wirkt der Affekt.
Wir leben in einer rhetorischen Welt. Rhetorik hat es nicht mit Wahrheit zu tun, sondern mit Erwartungen.

Die Thüringer Landesregierung beabsichtigt, ab 2009 die Förderung „der Kultur“ einzuschränken. Eigentlich geht es um die Finanzierung der Theater und Orchester. Gründe für die Kürzungen wie Argumente dagegen liegen auf der Hand. Einerseits: das Geld fehlt. Andererseits läßt sich mittels „Streichorchester“ kein Landeshaushalt retten, sind die Kulturausgaben im Gesamthaushalt vergleichsweise gering, wurden in Thüringen seit 1990 bereits acht Orchester „abgewickelt“ oder zusammengelegt.
(Lassen wir lediglich den demagogischen Bezug der Kultur-Apologie auf den Einigungsvertrag, wonach die „kulturelle Substanz“ im Beitrittsgebiet keinen Schaden nehmen dürfe, bei Seite, weil er die Ausgangssituation ignorant verkennt. Die ephemere DDR ist als bankrottes Staat von den Staatsinsassen eliminiert worden. Aus Verzweiflung im unendlichen Grau. Diese Kultur hatte keine Substanz. Ruinen schaffen, hieß die tatsächliche Losung. Im großen Plan stand die weltanschauungsgemäße Vernichtung bürgerlicher Freiheitskultur, nach außen hin Humanismus-Propaganda. „Erbepflege“ war ein potemkinsches Schlagwort, die Altstädte standen vor dem endgültigen Verfall, Sprenggenehmigungen für ganze Quartiere waren erteilt. Wir zahlen die hochverschuldete DDR immer noch ab.)
Die Vielfalt der Kulturlandschaft ist ein Charakteristikum Thüringens. Der Landeshaushalt beträgt knapp zehn Mrd. Euro. Der Rahmen der Landeszuschüsse für kommunale Theater und Orchester soll ab 2009 den Betrag von fünfzig Mio. Euro nicht überschreiten. Die geplante Einsparung von zehn Mio. Euro entspräche 0,13 Prozent des Gesamthaushaltes. 1995 gab der Freistaat 161 Mio. Euro für Kultur einschließlich Denkmalpflege aus, jetzt sind es 124 Mio. Euro jährlich. Die Befürchtung, eine weitere Kürzung würde in der kulturellen Zukunft Thüringens schädlichste Folgen zeitigen, ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings argumentieren mit ähnlichem Verve die Sozial-, Schul-, Wirtschafts-, Umwelt- Renten-, Innen-, Gesundheitspolitiker und überhaupt alle Fachlobbyisten. Was heißt „kulturelle Zukunft“?

Was die Rhetorik betrifft, so lassen sich ihre traditionellen Grundauffassungen auf eine Alternative zurückführen. Hans Blumenberg faßte sie zusammen: „Rhetorik hat es zu tun mit den Folgen aus dem Besitz von Wahrheit oder mit den Verlegenheiten, die sich aus der Unmöglichkeit ergeben, Wahrheit zu erreichen.“ Verlegenheit, das klingt angemessen.
Welcher Souverän mag sich daran gewöhnen, nur das auszugeben, was erwirtschaftet wird? Und die Lage ist prekärer: wir müssen jetzt das finanzieren, was wir uns in den jüngsten Jahrzehnten geleistet haben, ohne es bezahlt zu haben. Das betrifft den Westen, das meint auch etwa die DDR-Renten. Deutschland lebt unverdrossen im Illusionismus und zelebriert die Wohlstandsverblödung. Laut Umfragen hat sich die Nation insgeheim auf Abstieg eingestellt. Die Stabilität wird durch Erbschaften und den Glauben an social engineering gesichert. Der Sozialstaat zeugt seine Wähler selbst. Die wirtschaftliche Situation wird vertagt. Wolfsschanzenmentalität. Von den großen Versprechungen der sozialdemokratischen Epoche, von Gleichstellung und Anerkennung, Emanzipation und Fortschritt, ist die Teilhabe an Privilegien und Subventionen geblieben. Reformen sind allgemein en vogue, „Sparen“ sollen immer die anderen. Nehmen wir Berlin. Der Regierende Bürgermeister kann sich nunmehr auf gerade mal 18 Prozent der Wahlberechtigten stützen. Der Berliner Sozialhaushalt entspricht längst der Summe der Etats für Kultur, Wissenschaft und Bildung, das Verhältnis wird sich weiter hin zum Sozialen verschieben. Selbst der virtuelle Spielraum schwindet. Der Staat wird von der Gesellschaft und ihren Erwartungen erwürgt. Er hat dazu aufgefordert. Der zum Anspruchsberechtigten mutierte neue Obrigkeitsstaatsbürger geht vernünftigerweise dahin, wo ihm am meisten geboten wird. Die Zahl der Transferempfänger steigt weiter – und damit die Wählerklientel verteilender Parteien. Nur noch knapp die Hälfte der Berliner bestreitet ihren Lebensunterhalt durch eigene Einkünfte, von den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten kaum noch zu reden. Sie werden immer weniger, müssen mehr leisten, werden politisch marginalisiert. Ein Modell für Deutschland? Paternalistische Sozialverwaltung. Der Mensch – ein Bürger mit Rechten und Pflichten? Wie steht es um die Bereitschaft der Deutschen, als Bürger entscheiden und für die Folgen dann auch einstehen zu wollen? Kant nannte eine Herrschaft, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen die Untertanen beruhe, den größten denkbaren Despotismus.

Die moralisierende Affekterregung ist ein zentrales Element politischer Hermeneutik. Mehr denn je. Wer seine Betroffenheit nicht bekunden kann, hat keine Chance im politischen Agon. Themen müssen emotional besetzt werden; die demonstrative Empörung ist ein Muß. Die Hypermoralisieurng der veröffentlichten Meinung ist das Ergebnis der Entrealisierung des Politischen. Erregung, intellektueller Krampf, Scheindebatten beherrschen die verunsicherte Szene. Die symbolische Geste der öffentlichen „Buße“ ist ubiquitär. Es wird ungern entschieden, es wird diskutiert. Der politische Streit entfernt sich von den Problemen. Bürger bleiben zu Hause. Wirklichkeit heißt Wahrnehmung von Ausschnitten, wir wählen frisch nach Stimmung. Der Sinn für das Ganze ist selten vermittelbar. Zuständigkeiten sind kaum mehr erkennbar. Interessen werden nicht geordnet und abgewogen, sondern in der Reihenfolge bedient, in der sie Resonanz versprechen: Gerede, Bilder, Einschaltquoten. Der Hang geht hin zur bloßen Anzeige der Handlungsfähigkeit: konzertierte Aktionen, runde Tische, große Koalitionen. Alternativlosigkeit, quasi die pluralistische Variante des Einparteiensystem. Der Wohlstand erlaubt kapriziöses Wahlverhalten oder politische Apathie. Politische Einstellungen ergeben sich aus kurzfristigen individuellen Absichten, immer seltener aus Überzeugungen oder tiefen Prägungen. Public relation ist ein erstrangiger Kompetenzbereich der Politik.
Wir tun so, als sei die politische Prämisse, auf Kosten kommender Generationen zu leben, der Normalfall und keine verantwortungslose Perversität. Es gibt weit mehr als vier Mio. Arbeitslose in Deutschland, aber auch 1,2 Mio. freie Stellen. Es geht nicht um Billigjobs. Die Hochqualifizierten ziehen über alle Berge. Unterfinanzierung der Forschung und Überregulierung vertreiben die Leistungsträger, jene also, die das Land am meisten braucht, die unsere Kultur prägen. Zuwanderer wollen wir uns nicht aussuchen, viele fallen direkt ins soziale Netz. Deutsche Spitzenkräfte wandern ab, ausländische meiden uns. Unsere politisch-kulturellen Debatten sind jene einer überalterten, müden, abgesättigten Nation.

Kein Land auf der Welt hat so viele Opernhäuser, Theater, Orchester auf engstem Raum versammelt wie Deutschland. Und Thüringen steht an der Spitze. Der Standard ist extraordinär. Acht Mrd. Euro werden jährlich in Deutschland von der öffentlichen Hand für Kultur ausgegeben, dazu kommen etwa 500 Mio. Euro von Unternehmen. Neunzig Prozent der Kulturausgaben werden in Deutschland vom Staat aufgebracht, etwa 45 Prozent davon je von den Kommunen und den Ländern, zehn Prozent vom Bund. Am Gesamtetat liest sich der Anteil zwar bescheiden: 2,4 Prozent der Gemeindehaushalte, kaum zwei Prozent der Landeshaushalte sind Kulturposten. In den USA werden nur zehn Prozent der Kulturförderung durch den Staat aufgebracht, in Großbritannien gibt es jährlich „nur“ 1,5 Mrd. öffentliche Mittel, auch nicht mehr als 200 Mio. Euro von Unternehmen. Das Ausmaß der staatlich garantierten Kultur in Deutschland sucht seinesgleichen, und auch das unternehmerische Engagement nimmt im Vergleich eine herausragende Stellung ein. Deutschland ist, was die Finanzierung angeht, ein Kulturstaat.
Politik ist nicht für Kultur verantwortlich, wohl aber für die Bedingungen, unter denen sie stattfindet. Kulturpolitik, so wie sie im Bundestag, im Kanzleramt und in den Staatskanzleien der Länder betrieben wird, ist ein pragmatischer Kampf um Haushaltstitel und Stellenpläne, eher Handwerk denn Erzeugung von Visionen. Allerdings interessieren sich immer weniger Staats-Bürger für kulturpolitische Streitereien. Zu abseitig erscheinen die Probleme oder die Blamage ist nicht weit: siehe Rechtschreibreform. Michael Naumann beklagte, über der deutschen Kulturpolitik läge „ein Ruch von Vergeblichkeit“. Der Ton ist unterdessen schärfer geworden: Auswärtige Kulturpolitik, Diskussion über ein Gedenkstättenkonzept, das stärker das Gedenken an die Opfer der SED-Diktatur einbezieht, Neujustierung der Erinnerungskultur, Berliner Stadtschloß, Föderalismus-Reform, Erhalt der deutschen Sprache, Denkmalpflege vs. Medienförderung. Die Verteilungskämpfe werden härter, und die Meinung gewinnt Raum, mittels Kulturpolitik könnten Machtdiskurse gesteuert werden.

Die Ausrichtung der Politik an den Medien, an der Unterhaltung, am Spektakel hat immense Bedeutung gewonnen. Unmittelbarkeit fehlt beinahe, viele Vermittlungsinstanzen beeinflussen die Wirkung. Es hat sich eine Verschiebung weg von parteigestützter hin zu mediengestützter Legitimation vollzogen. Politik ist personalisiert. Das Vermögen, Stimmungen zu evozieren und die Presse zu beherrschen, entscheidet.
Vor zehn Jahren wurde die Zahl der Doktorandenstipendien für die Max Planck Gesellschaft um ein Viertel gekürzt. Die Professoren in Harvard und in Stanford freuten sich über motivierte Doktoranden aus Germany. Die meisten blieben drüben. Jacob Burckhardt schrieb über die Macht: „Nur an ihr, auf dem von ihr gesicherten Boden, können Kulturen des höchsten Ranges emporwachsen.“ Wieviel Macht hat unser Staat? Wieviel Zukunft hat diese Gesellschaft? Diese Kultur? Zuerst wollen die Deutschen keine Kinder zeugen, dann wollen sie nicht sterben, und die Besten wandern aus. 2005 verließen so viele Deutsche das Land wie niemals seit den späten 1940er Jahren. Was treibt heute fast 150.000 Menschen jährlich fort? Es sind zumeist junge, begabte, leistungsbereite Deutsche, die ins Ausland gehen: auf Dauer. Sie spüren, daß tatsächliche Lähmung das Land erfaßt hat. Sie haben die arrivierte Looser-Haltung satt, entziehen sich dem Stillstand. Immer weniger junge Leute sollen immer mehr Alte versorgen mit ihren Steuern und Sozialbeiträgen, sie sollen aus dem Gesparten für sich selbst sorgen, und was sie bis sparen können, verspricht ihnen der Staat noch wegzusteuern. Die Staatsquote in Deutschland liegt bei mehr als fünfzig Prozent. Der Staat holt sich das meiste Geld und verteilt es um. Soziale Marktwirtschaft degeneriert zum Sozialismus. Umverteilt wird durch Steuerpolitik, durch Subventionen, durch Sozialversicherungen, durch Sozialleistungen. Die Steuer- und Abgabenlast erstickt die Zukunft, der Sozialstaatsapparat ist nicht mehr finanzierbar, längst stehen nicht mehr allein die freiwilligen Aufgaben in Frage.

Im Wort Bildung steckt die mystische Tradition, wonach der Mensch das Bild Gottes, nach dem er geschaffen ist, in seiner Seele trägt und in sich aufzubauen habe. Klassische deutsche Bildung hatte viel von dieser Doppeldeutigkeit bewahrt: Nachbild und Vorbild zugleich sein. Wilhelm von Humboldt schrieb: „Der wahre Zweck des Menschen [...] ist die höchste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßlichste Bedingung.“ Auf dieser freiheitlichen Selbstbildungsidee ist das reform-humanistische Erziehungssystem in Deutschland gebaut worden. Nach der Niederlage 1806 sagte der preußische König, man solle nun durch geistige Anstrengung wettmachen, was man an physischer Kraft verloren habe. Der Plan ging auf. Es gehörte seit dem späten 18. Jahrhundert in den deutschen Staaten zum Ethos, die allgemeine, die Volksbildung anzuheben, die technische Ausbildung zu verbessern und das Hochschulstudium aufzuwerten: die Universitäten galten bald als die besten der Welt. Heute herrscht Nivellierung nach unten. Die Reformuniversität ist als Massenanstalt in den Niederungen angekommen. Ausländer lernen bei uns, weil es nichts kostet. Wer sich entwickeln will, zahlt und studiert woanders.
Angesichts der Verschuldung schwinden die Gestaltungsmöglichkeiten, Prioritäten werden nur verbal gesetzt. Die Institutionen trocknen im Grunde aus, werden allenfalls rhetorisch bewässert. Labile Bonsais gedeihen. Politischer Minimalismus tendiert zum Nihilismus werden, Etatismus zum Sozialamtsdenken. In Hannah Arendts „Vita activa“ heißt es, die Bedrohung der Freiheit in der Gesellschaft komme nicht mehr vom Staat, sondern von der Gesellschaft selbst. Die Inhumanität liebt den Schein der Humanität, die Intoleranz den der Toleranz. Eine Welt der Stimmungen? Oder wie nennen wir das? Eine Verständigung über die Phänomene wäre vielleicht herzustellen: Pluralität von Meinungen, Werten und Handlungsweisen, Permissivität, intellektuelle (Narren-)Freiheit, beschleunigter Wandel der Lebensformen, Auflösung von Hierarchien, totaler Egalitätsanspruch, Abbau von Bindungen, Verlust an Traditionalität, kulturelle Globalisierung, Nachlassen von festen Überzeugungen, Profanität, (scheinbare) Komplexität, Funktionalität und grenzenlose soziale Mobilität, ein seltsames Wechselspiel von Individualität und Uniformität, von Selbstentfaltung und faktischer Vermassung, die Überzeugung grenzenloser Evolution, zugleich Tendenzen der Ästhetisierung, der Wiederverzauberung...
Ist die bürgerliche Moderne zu Ende? Ist unsere Massendemokratie als postmoderne Gestalt zu charakterisieren? Welche Kulturpolitik verlangt ein solches Gebilde?

Die Förderung und Pflege von Kunst und Kultur in Deutschland ist vorrangig Aufgabe der Länder und Kommunen. Förderung und Pflege bedeuten Finanzierung. Thüringen hat elf Theater, teilweise mit Orchestern, 180 Museen, von den 22 institutionell gefördert werden, 329 öffentliche Bibliotheken, 26 Musikschulen, 6 Staatsarchive, ca. 30.000 Bau- und Bodendenkmale, vier Stiftungen. Der Landeshaushalt 2005 betrug 9,3 Mrd. Euro, der Kulturetat 124 Mio. Euro: das sind 1,3 Prozent. Diese Kulturquote ist besser als diejenige der meisten west- und süddeutschen Länder; sie liegt in Nordrhein-Westfalen bei 0,6 Prozent. Nur das „Geberland“ Bayern leistet sich im Verhältnis so viel wie wir, allein die Sachsen mehr. Thüringen gibt, gemessen am Gesamthaushalt, mehr für Kultur aus als Baden-Württemberg und viel mehr als Hessen oder Niedersachsen und sehr viel mehr als Berlin. Anders als wir: kulturarm, aber sexy. Ähnlich sieht es bei den Theaterzuschüssen pro Kopf der Bevölkerung aus: Im Bundesdurchschnitt werden 12 Euro ausgegeben, bei uns liegt der jährliche Theaterzuschuß pro Einwohner bei 29 Euro. Weiter: Sachsen 15,5 Euro, Bayern 13 Euro, Berlin 9 Euro, NRW sogar nur wenig über 2 Euro. Unsere Standards sind deutlich besser als die derjenigen Länder, die uns aushalten. Teilungskosten. Der Freistaat gibt jährlich die Hälfte des Kulturetats für die kommunalen Theater und Orchester aus. Eine Theaterkarte wird in Deutschland im Schnitt mit 90 Euro Steuergeldern gefördert, in Thüringen sind es 125 Euro, in Erfurts neuer Oper sogar mehr als 170 Euro. Auslastung und Einspielergebnisse liegen mit weniger als zehn Prozent deutlich unter dem Bundesdurchschnitt.
Für die Rolling Stones darf man für eine Ticket bis zu 190 Euro ausgeben, für Eric Clapton kaum weniger. In Thüringen kostet eine Theaterkarte im Durchschnitt nicht mehr als dreißig Euro. Der Staat subventioniert. Woher dieser Anspruch der „bürgerlichen Hochkultur“ an die Allgemeinheit? Inwiefern ist die Position wider die Popularität zeitgemäß? Warum sponsert der Staat die Aufführung zwei Jahrhunderte alter Sinfonien und redet von Zukunft? Selbstredend, weil Mozart unsterblich, Goethe klassisch-aktuell ist. Spricht das nicht zugleich für die latente Impotenz zeitgenössischen Schaffens? Warum arbeiten sich Regisseure immer wieder an „alten“ Texten ab, warum ist das Neue so hämisch infantil? Wir haben uns längst im Antiquarischen, im Sekundären gemütlich eingerichtet. Alles vertrottelt sich avantgardistisch in der Information, im Spektakel, im Skandälchen, im Aufgewärmten und Abgestanden. Zeitgeist-Byzantinismus. Trotzdem: Wir leisten uns staatsgemäß Hochkultur, bekennen uns damit zur Hierarchie, mögen die Distanz zum Bierfest nicht in Gänze aufzugeben. Unerotische Abwehrschlacht zugegebenermaßen. Bekenntnis zum Anachronismus. Wider den Untergang des Abendlandes etc. Denn neue Barbaren sind globaliter unterwegs. Es gilt, den Kontinuitätsbruch zu vermeiden. Bewahrung, denn wer weiß, was kommt. Aber es gibt, so Nietzsche, auch einen „Grad von Wiederkäuen, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt, und zuletzt zu Grunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Cultur“. Cosi fan tutte. Thüringen hat im Bundesländervergleich die meisten Theaterplätze: 25 Plätze auf 1.000 Einwohner, zweieinhalbmal soviel wie im Bundesdurchschnitt. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Aber er lebt vor allem vom Brot. „Hochkultur“ ist eine Konfiguration der Verschwendung, ein Ergebnis der Freiheit, der Negation des Notwendigen. Kann und will dieser Staat – fragwürdiger noch: will diese Gesellschaft sich höchste Freiheit leisten? Aus Einsicht in die Notwendigkeit?

Gottfried Benn schrieb in seinem großen Essay Dorische Welt: „Man kann sie nebeneinander sehen, die Macht und die Kunst, wahrscheinlich ist es für beide gut, es einmal durchzuführen: die Macht als die eiserne Klammer, die den Gesellschaftsprozeß erzwingt, während ohne Staat im natürlichen bellum omnium contra omnes die Gesellschaft überhaupt nicht in größerem Maße und über den Bereich der Familie hinaus Wurzeln schlagen kann.“ Benn drückt es so aus: „… der Staat, die Macht reinigt das Individuum, filtert seine Reizbarkeit, macht es kubisch, schafft ihm Fläche, macht es kunstfähig. Ja, das ist vielleicht der Ausdruck: der Staat macht das Individuum kunstfähig, aber übergehen in die Kunst, das kann die Macht nie.“ Kunst bleibe eigengesetzlich und drücke nichts als sich selbst aus, denn „Stil ist der Wahrheit überlegen, er trägt in sich den Beweis der Existenz“.
Künstler, Kulturmacher rufen mehr denn je nach der Kraft des Staates. Im Juli 2006 begannen die Gespräche des Thüringer Kultusministeriums mit den 26 Trägern der Theater und Orchester im Freistaat. Daß der Landeshaushalt nur zu weniger als der Hälfte durch Steuern und ansonsten durch Zuweisungen anderer Länder, des Bundes und der EU sowie aus Krediten finanziert ist, gehört zu den Rahmenbedingungen. Woher nimmt Thüringen weiterhin die unsolidarische Kraft, pro Einwohner aus dem Landeshaushalt für Kultur mehr als doppelt so viel wie Bayern und fast dreimal so viel wie Baden-Württemberg auszugeben?
Bedeutet die Kulturförderung nichts anderes als die Förderung bildungsintensiver Arbeitsplätze? Subvention als Investition! Das Preis-Leistungs-Verhältnis von Kultur ist tatsächlich unschlagbar. Wieso jedoch wird eine bestimmte Kultur finanziert? Längst macht bei denen, die nicht am „System“ partizipieren, das Wort von der Subventionskultur die Rede. Und es geht nicht um bloße „Breitenkultur“, nicht nur um „freie“ Theater, Tage neuer Musik, Jazzmeilen, Klezmerwochen, Lesenächte, „Kleinkunst“-Bühnen... Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Übersetzer – sie alle müssen sich auf dem Markt verkaufen, leben von Stipendien, bewerben sich um subventionierte Ateliers. Ein unschönes Getriebe. Bei sinkenden Kulturausgaben wurden in den letzten Jahren nur die Landesmittel für Theater und Orchester nicht gekürzt. Überkommenes Bekenntnis zur bürgerlichen Moralanstalt oder zu eine besonderen europäischen Geselligkeitsform? Ja! Aber solch ein Bekenntnis setzt eine ästhetische und kulturgesellschaftliche Entscheidung, einen Wille zur sozialen Ungerechtigkeit voraus. Umverteilung im Etat, Neujustierung ist gleichwohl angesagt. Mit dem Haushalt 2005 flossen 53 Prozent der Kulturausgaben des Landes Thüringen in die Theater- und Orchesterfinanzierung, 1995 betrug der Anteil noch 38 Prozent. Derzeit stehen für Projektmittel lediglich vier Prozent des Landeskulturhaushalts zur Verfügung.
Leere Theater, schnell abgesetzte Inszenierungen, inhaltliche und formale Krisen, leseschwache, einfallsarrogante Regisseure, geschwätzige Nichtsagendheit. Dirty rich und der Applaus der Sitzenbleiber. Der selbstvergessene Apparat feiert sich selbst, ein Milieu igelt sich ein und glaubt tapfer an sein Wichtigsein. Draußen wird es kaum mehr ernstgenommen. Geld kommt noch. Trallala im Feuilleton. Alles lang analysierte und breit diskutierte Zustände. Abgeschrieben – und doch unverzichtbar. Melancholie ist es, die uns immer wieder ins Theater gehen läßt.
Bürgerliche Kultur? Racine deklamieren heißt Racine verstehen. Das setzt Mühe, Anstrengung, tiefe Affinität voraus, erfordert Ehrfurcht bei der Arbeit im Weinberg des Textes. Die Logik unserer hedonistischen Massendemokratie egalisiert alle kulturellen Elemente; die Emanzipationen des späten 20. Jahrhunderts haben die Gesellschaft in eine flexible Ansammlung von Produzenten und Konsumenten verwandelt, sprich: entbürgerlicht. Zuvörderst kulturell. Die modern-bürgerliche Welt ordnete die Spannungen von Individuum und Gesellschaft, Eigennutz und Gemeinnutz, Bildung und Können, Kunstwerk und Stil, also das Einzelne und das Ganze, harmonisch an. Sie beerbte das hierarchische Denken Alteuropas und transformierte es in liberale Formen. Die Identitäten bürgerlicher Kultur bieten keinen Halt mehr. Übriggeblieben sind lose Elemente, die unter rein funktionellen Aspekten kombiniert werden können. Wir sehen die weltweite Durchsetzung einer uniformen Massen- und Medienkultur. Was heißt da und zu welchem Ende betreibt dieser Staat Hochkulturpolitik?

Der Ruf nach dem Staat wird allenthalben lauter, die Erwartungen an ihn sind ebenso hoch wie widersprüchlich. Was soll er dem Einzelnen bieten? Gibt es noch ein Eigenrecht des Politischen gegenüber dem Ökonomischen und Sozialen? Der alte Liberalismus war ein ausgeklügeltes System der Freiheitssicherung, gegen staatliche und gegen wirtschaftliche Macht, war staatsskeptische Ordnungspolitik. Er basierte auf dem Zusammenhang von Optionen und Ligaturen. Um frei zu sein, braucht der Mensch nicht nur Wahlmöglichkeiten, sondern auch Koordinaten. Er braucht Halt, Bindungen. Das eben vermittelten gewachsen gesellschaftliche Institutionen, nicht zuerst der Staat: Familie, Gemeinde, Tradition, Kirche, Schicksalsgemeinschaft, Nation – und die ererbte Kultur, hohe, festliche wie alltägliche. Da diese Institutionen lustvoll-suizidal geschliffen werden oder worden sind, soll der Staat nun alle (finanziell) substituieren. Als letzte Institution soll er rasant wechselnde neue Systeme und viele Anachronismen stützen. Postmoderne und totaler Staat: das wäre ein Thema.
Wo ist das Maß der Kulturstaatlichkeit in einem Land, das keine kantige Kulturkritik mehr kennt? Wie plausibel ist der Widerstand, wer wagt die fundamentale Störung? Nach Redlichkeit und Glaubwürdigkeit mag man nach den Fällen Jens, Grass etc. in diesem Land nicht fragen. Nach intellektueller Verantwortung schon gar nicht. Das Versagen einer ganzen egoistischen „Klasse“ im Einigungsprozeß ist nicht vergessen. Gerade die Intellektuellen haben in Deutschland nichts so eloquent angegriffen wie den nationalen Kulturstaat, die bürgerliche Gesellschaft. Deren Auflösung wurde von der ästhetischen Avantgarde inbrünstig gefordert, auf den Bühnen exzessiv performiert. Woher jetzt die Jammerei? Der Staat zieht sich zwangsweise zurück, taugt als Gegner nicht mehr. Er wird Intellektuellen und Künstlern auch als Mäzen abhanden kommen. Später.

Der finanzielle Rahmen des Landes Thüringen hat sich in den jüngsten Jahren nicht verbreitert. Im Gegenteil, mit der Bestätigung des Solidarpakts II bis 2019 kann die Reduzierung des Landeshaushalts prognostiziert werden. Das Volumen von 9,3 Mrd. Euro wird bis 2019 dramatisch sinken, und zwar um ein Drittel. Dieser Entwicklung wird sich, auch wenn der Autor und Kulturpolitiker sich melancholisch anderes wünscht, kein Etat verschließen können. Wie die gegenwärtigen Verhandlungen – es liegt ein Angebot des Landes vor, die Träger sind am Zug – auch ausgehen, der Kulturetat wird zumindest nicht wachsen. Die Theater sind, abgesehen von Meiningen, in der Trägerschaft der Kommunen; das Problem entsteht ohnehin und vor allem dort. Dem DNT Weimar etwa fehlen ab 2009 allein 2,5 Mio. Euro wegen der anstehenden Tarifanpassungen. Die geplanten Landeskürzungen machen 1,5 Mio. Euro aus. Das heißt: Ohne Änderungen im Netz der kulturellen Einrichtungen und stärkere Stringenz der Förderstrukturen ist der Sektor nicht zukunftsfähig. Oder wir richten uns im flächendeckenden Mittelmaß ein. Auch das wäre eine Thüringer Option. Sie wird nicht selten gefordert. Lässiges Bekenntnis zur Provinz. Masse und Breite statt Klasse. Wer mag und kann noch differenzieren.
Bei einem Anteil der Personalkosten an den Theaterausgaben von 83 Prozent sowie durchschnittlichen jährlichen Personalkosten von 45.000 Euro pro Hoch-Kultur-Beschäftigten, entspräche die Reduzierung der Landesförderung einer rechnerischen Personaleinsparung von über 200 Beschäftigten. Schon dies wird notwendigerweise zu veränderten Ensemble-Strukturen führen. Hinzu kommen die tarifbedingten Aufwüchse der Kosten. Eine entblößende Qualitätsdiskussion steht ins Haus. Einige Theater haben in den letzten Jahren Einsparungen über Haustarifverträge realisiert. Probleme wurden damit verschoben. Die Moratorien enden. Einkommensrückstände würden über einen Zeitraum hinweg zu Qualitätsabstrichen führen. Cui bono?
Die Theaterdiskussion wird von Schützengräben aus geführt. Ideenreichtum ist nicht erkennbar. Zunächst, es geht nicht um „die“ Kultur, es geht um ein bestimmtes, an staatliche Alimentierung gewöhntes Segment. Es geht um Angebote für Minderheiten – und für immer älter werdende Touristen. Ein Informationsblatt des Bundeskulturministeriums (schon aus dem rot-grünen Jahr 2002) verabschiedet sich schneidig vom Konzept „Kultur für alle“ der 1970er Jahre: „Die engere Bindung der Kultur an den Lebensalltag ist mitunter mit einer Verflachung des kulturellen Angebots erkauft worden. Problematisch erscheint heute vor allem die damalige Grundannahme, es gebe eine Kultur, die sich allen Schichten erschließt.“ In der Praxis ist das stets bestätigt worden, es geht nicht um Preise, es geht um Relevanz. Als der Berliner PDS-Kultursenator Flierl jüngst mit Bussen Hartz-IV-Empfänger abholen und in die Linden-Oper fahren wollte, kam er mit weit mehr Fahrzeugen als Insassen zurück. Also stürmen wir wenigstens diesen Graben, er ist längst leer.
Und wie weiter? Wir wissen um die marginale Bedeutung des Theaters, die Altersstruktur der Orchester-Besucher, die Anzahl der monatlichen Konzerte, die Auslastungen, die Einspielquoten, die ästhetische Innovation. Hans Magnus Enzensberger hielt im August 2006 eine Tischrede beim Treffen des Ordens Pour le Mérite; er sagte: „[…] und so leistet sich jedes Residenzstädtchen bis heute sein Theater, sein Orchester, sein Museum, das eine oder andere Festival und manche andere Annehmlichkeiten. Wenn der Bund es nicht richtet, wird es schon das Land oder die Gemeinde tun.“ Enzensberger weiter zu Oper, Orchester, Theater: „Auch in diesem Fall wird man jedoch daran erinnern dürfen, daß die Fütterung von Künstlern nicht zu den Geboten unserer Verfassung gehört. Wer Theater spielen, Installationen hervorbringen oder Gedichtbände schreiben will, sollte sich darüber im klaren sein, daß er sich auf höchst riskante Tätigkeiten einläßt. Für den Fall, daß er mit seiner Arbeit kein Auskommen findet, sollte er darauf verzichten, sich beim Staat zu beklagen. Jammernde Künstler sind kein schöner Anblick.“ Enzensberger rät, sich von der Verbeamtung der Kultur zu verabschieden: „Die Tätigkeiten, um die es sich hier handelt, stehen dem Dienstrecht fern; sie kennen keine Pensionsansprüche, keinen Bundesangestelltentarif und keine Garantien. Lassen Sie deshalb in Ihrer ministeriellen Güte Zeitverträge walten, vertreiben Sie die Gewerkschaften aus dem Musentempel, geben Sie den Leuten Autonomie, und verabschieden Sie sich von dem häßlichen Laster des Kameralismus.“

Wir stehen vor neuen kulturpolitischen Debatten, die sich an der dekadenten Wirklichkeit orientieren und Versäumnisse der Vergangenheit anerkennen müssen. Was fällt unter Kultur? Wie stark muß die Kultur staatlich gefördert werden? Die bürgerliche Gesellschaftstheorie band das Individuum an überindividuell-normative Instanzen, das Individuum im postmodernen Kontext erscheint von jeder substantiellen Bindung losgelöst. Nur die möglichst totale gesellschaftliche Atomisierung gestattet extreme Flexibilität.
Das Verhältnis Staat – Kultur wird neu überdacht werden müssen, nicht nur wegen der existentiellen Finanznöte der öffentlichen Haushalte, sondern auch wegen der rasanten gesellschaftlichen Veränderungen, wegen der fehlenden kulturellen Dissidenz gegenüber der Dekadenz, wegen der sich verändernden Rezeptionsweisen, wegen der siechen Schicht Bildungsbürgertum. Wir werden uns an uncharmante Leitbegriffe gewöhnen müssen: Kulturwirtschaft, -stiftungen, -sponsoring. Eine Thüringer Kultur-Konzeption wird eine spröde Einordnung der Kultur als Wirtschaftsfaktor beinhalten müssen: Kultur schafft Arbeitsplätze, bringt Touristen ins Land, gibt Anreize für Investoren. Tatsächlich, der Tourismus in Thüringen erzielte 2004 einen Umsatz von 2 Mrd. Euro (und ist mit der Automobilzulieferindustrie ungefähr auf gleicher Höhe). Der Städtetourismus ist ein Zukunftsmarkt. Der Kulturetat macht 6,3 Prozent des Tourismus-Umsatzes aus. Allein die Mehrwertsteuer beträgt 270 Mio. Euro. Kultur ist als wichtiges Fundament des Tourismus ein Wertschöpfungsfaktor. Und also verlagern wir die Kulturdiskussion am besten pragmatisch in das Wirtschaftsressort.

Weltbilder wurzeln in nicht vollständig begründbaren Dezisionen. Sie werden vom Selbstbehauptungswillen dominiert und rhetorisch umschleiert. Vernunft dient keineswegs dazu, das Machstreben zu überwinden, sie ist Teil desselben. Politische „Kommunikation“ ist nie interesselos, auch die Ansprüche der ratio sind wie jene der Moralität – mehr oder weniger erkennbar – aggressiv. Unsere gegenwärtige Kulturdebatte ist nicht prinzipiell oder phänomenal, sondern rhetorisch. Sie fragt nicht nach dem Wesen der Sache.
Es gibt einen Essay Ortega y Gassets aus dem Jahr 1932: Um einen Goethe von innen bittend. Darin heißt es: „Das Leben ist seinem inneren Wesen nach ein ständiger Schiffbruch. Aber schiffbrüchig sein heißt nicht ertrinken. Der arme Sterbliche, über dem die Wellen zusammenschlagen, rudert mit den Armen, um sich oben zu halten. Diese Reaktion auf die Gefahr seines eigenen Untergangs, diese Bewegung der Arme ist die Kultur […]. Solange die Kultur nichts ist als dies, erfüllt sie ihren Sinn, und der Mensch steigt auf über seinem eigenen Abgrund.“ Ortega schreibt weiter, er glaube nur an die Gedanken Schiffbrüchiger. Man sollte die Klassiker vor ein Tribunal von Schiffbrüchigen stellen und sie gewisse Urfragen des Lebens beantworten lassen. Kultur als Kulturwirtschaft legitimiert: das ließe sich eine Zeitlang finanzieren, aber im Grunde wäre es Sterbehilfe.

Der Thüringer Landeshaushalt befindet sich in einer schwierigen Lage. Vom Auslaufen der Osttransfers war die Rede. Und seit drei Jahren bleiben die Steuereinnahmen hinter den Erwartungen zurück, eine Folge der wirtschaftlichen Situation, in der sich Deutschland befindet. Düstere Faktoren bestimmen die Seite der Einnahmen in Thüringen. Da ist die demographische Entwicklung: der starke Bevölkerungsrückgang, der zu weniger Steuereinnahmen und zur Zunahme der Pro-Kopf-Verschuldung führt. Thüringen wird 2020 nur noch etwa 2 Mio. Einwohner haben, das sind 11 Prozent weniger als heute. Und die Bevölkerung wird älter, das Erwerbspotential schmilzt. Thüringen zahlt täglich 1,8 Mio. Euro Zinsen. Die Pro-Kopf-Verschuldung liegt bei fast 6.000 Euro; nimmt man die Kommunen hinzu, nähern wir uns den 8.000 Euro. Im Landeshaushalt liegt die frei verfügbare Masse bei 260 Mio. Euro, das sind drei Prozent. Alle anderen Mittel sind gebunden durch Bundes- und Landesgesetze oder langfristige Verträge. Der Sozialstaat fordert seinen unermeßlichen Tribut. Allein für Sonderrenten aus DDR-Systemen gehen dreistellige Millionen-Beträge weg, sehr viel mehr als der Kultur- oder der Kindergarten-, selbst als der Hochschul-Etat. Und wir haben zuviel Beschäftigte im öffentlichen Dienst (25 für 1.000 Einwohner, in den alten Ländern sind es 20); wir geben, so wirft eine neue Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung dem Freistaat vor, zu viel Geld für Kultur und Bildung aus. Das Land ist zu drastischen Sparmaßnahmen gezwungen. Die Studie von Helmut Seitz verlangt nicht zuletzt den Abbau der „flächendeckenden Topstandards in Kultur und Bildung“.
Der Sozialstaat hat Erwartungen geweckt, die sich auf Dauer nicht erfüllen lassen. Die Staatsausgaben müssen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt deutlich gesenkt werden, der Staat darf nicht mehr alle Aufgaben übernehmen, die der Einzelne oder die jeweils kleinere Gemeinschaft erfüllen kann. Die Haushaltslage stellt das Land vor große Schwierigkeiten, aber erhöht den Druck, sich vom Illusionismus zu verabschieden. Wirklichkeit läßt sich nicht beliebig konstruieren. Die Thüringer Landesregierung hat das Ausgabenniveau von 1998 bis 2007 bereits deutlich gesenkt und wird bis zum Ende der Legislaturperiode 13 Prozent der 2005 noch ausgewiesenen Personalstellen im Landeshaushalt „eingesparen“. Neben den rund 400 Stellen, die bis 2009 in den obersten Landesbehörden wegfallen, werden im nachgeordneten Bereich rund 7.000 Stellen gestrichen.

Es geht um ein neues Verhältnis von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, um die Entwicklung von Mäzenatentum und privaten Stiftungen. Welche Kultur werden sie fördern? Kommt es in der Krise zu einer Revitalisierung des Bürgerlichen? Die kulturrevolutionäre Individualisierung hat wohl mit Vielfalt, Reichtum an Unterschieden, Differenz wenig zu tun. Sie schafft im Gegenteil, bei aller Beweglichkeit im Detail, blähende Monotonie und Alternativlosigkeit, eine dümmliche Langeweile. Das Besondere, Einmalige, Unverwechselbare entzieht sich. Die durchindividualisierte Gesellschaft bezahlt die Fülle der Optionen im einzelnen mit gesichtsloser Uniformität im ganzen. So gibt es denn auch nichts Eintönigeres, Konventionelleres als jene Nonkonformität, die die Emanzipationspropheten für das Endziel der Erziehung des Menschengeschlechts halten. Auch der spät- und postmoderne Pluralismus hat ein Selbstverständnis, das möglicherweise als ideologisch zu bezeichnen ist: ein Weltbild wird verabsolutiert. Und keine Kulturkritik begehrt gegen die Trostlosigkeit und ästhetische Vergessenheit auf. Botho Strauß schrieb klug: „Der Widerstand ist heute schwerer zu haben, der Konformismus ist intelligent, facettenreich, heimtückischer und gefräßiger als vordem, das Gutgemeinte gemeiner als der offene Blödsinn [...].“
Warum mangelt es an einer desillusionierenden, radikalen und vor allem konsequenten Kultur-Kritik? Fällt der Abschied von feisten, utopistischen Doktrinen zu schwer? Welche Berechenbarkeitsgarantien haben die Konstrukte, die unsere Kultur schildern? Die gesellschaftliche Fragilität, die seit eh und je den dunklen Leidenschaften des Menschen angelastet wird, läßt sich nicht ausschalten. Der absolute Pluralismus und Humanitarismus lebt aus einem evolutionistischen Optimismus. Doch erfaßt eine Wunschanthropologie die Realitäten dieser Welt hinreichend? Stellt sich unter den Bedingungen der hochtechnisierten, partyverwöhnten Massengesellschaft die Frage nach dem Wesen des Menschen und den Möglichkeiten der Kultur nicht schärfer denn je? Der Zerfall der alten Ideologien bedeutet nicht das Ende der Kämpfe zwischen sozialen Gruppen, Staaten. Menschliches Verhaltens beruht auf Konstanten, unter denen das Streben nach Selbsterhaltung (auch durch Machtsteigerung) nicht das Unwichtigste sein mag. Innerhalb einer offenen Weltgesellschaft wird das Problem des sozialen Zusammenhalts weiter bestehen – und es kann jederzeit eine ungeahnte Schärfe annehmen. Und es wird um Kultur gehen.
Die fortschreitende Mediengesellschaft hat keinen Sensus für irrationale Bestätigung. Sie schafft alle unökonomischen, unnützen Bindungen ab zugunsten der totalen Gegenwart. Nietzsche hat uns gelehrt, daß eine Kultur beides nötig hat: das Unhistorische wie das Historische. Wir reden autistisch über staatliche Kulturfinanzierung, konservieren Kultur, weichen den bedrängenden Fragen aus.
„Der letzte der Maskierten bleibt einen Augenblick stehen und erkennt Minetti und zeigt mit dem Zeigefinger auf ich ruft Der Künstler Der Schauspielkünstler und läuft weg. Minetti bleibt bewegungslos, bis er vollkommen zugeschneit ist. Ende.“ (Thomas Bernhard)

Wir brauchen den Staat als Schutzraum; die bürgerliche Kultur allein ist zu altersschwach, moribund, ausgezehrt. Sie ließ sich nie durch Mehrheiten bestätigen, lediglich finanzieren. Sie hat sich nun, die Zeiten ändern sich, trotz ihres Zustandes als elitäre Kultur zu legitimieren. Jedes Bekenntnis zu ihr erfordert Wahrhaftigkeit und ein Erkenne die Lage. Identität ist kein Modewort, das sich justament revitalisieren ließe. Die deutsche Nation hat sich noch vor territorial-staatlicher Einigung und demokratischer Verfassung als Kulturnation verstanden. Kultur hat einen eigenständigen Freiheitsraum erzeugt. Unsere Kultur ist untrennbar – ob bewußt die unbewußt, ob gewollt oder bekämpft – mit der Identität als Nation verbunden. Und sie ist mit Europa verbunden. (Früher wagte man, Abendland zu sagen.) Nun ist Identität nicht alles, aber ohne Identität ist Kultur nichts. Es kommt nicht vorn ungefähr, daß die Kulturnation alle politischen Systeme überdauert hat. Sie hat geholfen, die vierzigjährige Trennung in zwei deutsche Staaten nicht zu einer Teilung des Volkes werden zu lassen. Unsere Kultur als besondere zu benennen und wegen ihrer Bedeutung zu verteidigen, ist Aufgabe des Staates und ist Aufgabe der „Kulturschaffenden“, also jener, die in den jüngsten Jahrzehnten lieber sich selber verteidigt und verwirklicht, dabei willentlich an dem Ast gesägt haben, auf dem sie saßen und sitzen.
In der historischen Leere fehlt die Richtung, ohne Woher gibt es kein Wohin. Kulturelle Zukunft ist Herkunft. Michael Stürmer rechnet ab: „Seitdem die 68er und ihre Epigonen, in der unheiligen Allianz mit den Technokraten in den Kultusministerien, den Verbänden und Parlamenten, die tabula rasa des Nichtwissens, Nichtlernens, Nichterinnerns herstellten, ist alles gleich, irgendwo im Nebel ferner Vergangenheiten.“ Erinnerung, Zeit, Geschichte seien seit Jahrzehnten zum irrationalen, unpolitischen Rest abgesunken. In diesem Jahr jährt sich zum 200. Mal das Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Es war eine politische Lebensform, eine Kultur, die bis heute deutsche Mentalitäten, Rechtsformen, Zünfte und Selbstverwaltung, Städtewesen, die Sprache, die Landschaften geprägt hat. Aber als in Magdeburg und Berlin große Ausstellungen eröffnet wurden, blieb die politische Prominenz fern. Erinnerungslosigkeit ist die Demenz, die eine Kulturnation befällt.
Im August 1946 hielt Winston Churchill in der Schweiz eine Rede über die Zukunft Europas. Er sagte, es gebe „kein Wiederaufleben Europas ohne ein geistig großes Frankreich und ein geistig großes Deutschland“. Ist mit Europa noch zu rechnen? Geistig? Kulturell? Oder werden andere die Erde erben? Die Diskussion über die „Leitkultur“ war überfällig. Ist Kultur zu definieren – oder ist sie offensichtlich? Sie muß nicht mit rationalen Argumenten begründet werden. Der abgewürgte Disput um die Leitkultur verweist auf den geltenden Begriff des Politischen. Das Gewünschte wird mit der Realität verwechselt. Es geht nicht um Fakten, es geht um Erwartungen. Den letzten Bürgern wird eingeredet, Politik habe nichts mit starken Interessenkonflikten, nichts mit Selbstbehauptung zu tun. Rhetorische Kultur.

Nietzsche erstrebte die deutsche Einheit als „die Einheit des deutschen Geistes und Lebens nach der Vernichtung des Gegensatzes von Form und Inhalt, von Innerlichkeit und Convention“. Uns fehlen die Kategorien einer Kulturkritik. Adorno war der Denker der metaphysisch-ästhetischen Sehnsucht nach dem Unbedingten, aber zugleich der bürgerlichen Spätzeit und der illusionären Entwürfe aus Übermut. Rhetorik statt Evidenz. Was kam danach? Allenfalls ästhetische Vollstreckung der satten Weltlichkeit und kleinbürgerlichen Innerlichkeit. Wir benötigen eine neue Kulturkritik, eine skeptische aus einem „starken Pessimismus“ (Nietzsche) her. Wo stehen die Marksteine des kulturellen Zeitbewußtseins? Ausdruck, Form, Geist, Bildung, Andacht. Stil vor allem! Das Schöne soll sein. Können wir uns Ironie noch leisten? Wir müssen.
Gerade wegen der intellektuellen Versuchungen zum virtuos-rhetorischen Umgang mit der Wirklichkeit ist eine historisch abgeklärte Skepsis gegenüber Visionen und Utopien, ein nüchterner Pragmatismus und pessimistischer Humanismus, der darum weiß, daß sich der alte Adam nicht in den Neuen Menschen verwandeln läßt, nicht die schlechteste Grundlage einer neu-bürgerlichen Kulturkritik als Fundament einer konservativen Kulturpolitik. Alles andere wäre Restauration allgemeiner leichtfertiger Banalität, Akzeptanz der klassizistischen Verstopfung.
Kehrt das politische Subjekt, der Bürger zurück? Gibt es Hoffnung auf eine neue kulturelle Gründerzeit? Wird die Krise kreative Dissidenz freisetzen? Ortegas Bild von der Kultur als Schwimmbewegung sei fortgeführt: „Zehn Jahrhunderte kontinuierlicher Kulturarbeit haben neben nicht geringen Vorteilen die große Unzulänglichkeit mit sich gebracht, daß der Mensch sich in Sicherheit glaubt, die Erschütterungen des Ertrinkens vergißt. Darum muß irgendeine Unstetigkeit eintreten, welche in dem Menschen das Gefühl des Verlorenseins, die Substanz seines Lebens, erneuert. Es ist nötig, daß alle Rettungsringe um ihn her versagen, daß er nichts findet, woran er sich klammern kann. Dann werden seine Arme sich wieder rettend regen.“

Aus: Palmbaum ~ Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 2/2006


Diskussionsrunde in der Goethe Galerie Jena
„Der arme Schiller“ oder:
Was können Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst einander geben?

Wie im letzten Heft angekündigt, war vom 9. bis 21. Mai 2005 in der Goethe Galerie Jena eine Ausstellung des Palmbaum e.V. zu sehen: „Im Spiel der Zeiten. Der Jenaer Schiller.“ Im Rahmen dieser Ausstellung lud ihr Kurator, Jens-Fietje Dwars, täglich zu Gesprächen über Schillers Erbe im Hier und Heute ein. Die wohl brisanteste Runde fand am 11. Mai statt: Im Zeichen des „armen“, von Schulden und Krankheit gezeichneten Schiller sprachen Alexander von Witzleben (Vorstandsvorsitzender der JENOPTIK AG), Prof. Dr. Klaus Dicke (Rektor der Friedrich-Schiller-Universität Jena), Till Noack (Geschäftsführer der Stadtwerke Jena-Pößneck GmbH) und Dr. Margret Franz (Werkleiterin von JenaKultur) über die Frage, was Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst einander zu geben vermögen.

Dwars: Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie herzlich zu unserer 2. Diskussionsrunde über die Fragen: ‚Was sagt uns Schiller hier und heute, welche Probleme kann er uns auftragen?‘ Denn um ein solches geht es heute, um die Frage: ‚Was vermögen Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft einander zu geben?’ Ist ihr Verhältnis nur eine Einbahnstraße, so dass der Geist bei der Wirtschaft betteln muss oder gilt auch umgekehrt, dass sie den Geist braucht, der eine innovative Lebenssphäre schafft? Sie wissen, Schiller erkrankte 1791schwer, nachdem er hier in Jena Professor für Geschichte geworden war. Sachsen-Weimar war ein armes Land. Und so war es zu unserer Beschämung nicht Carl August, der Schiller gerettet hat, sondern der Herzog von Holstein Augustenburg. Seiner Ehrengabe von drei Mal jährlich 1000 Talern verdanken wir nicht nur Schillers „Briefe zur ästhetischen Erziehung“, sondern vor allem den „Wallenstein“, das große Drama, das der Dichter nun, relativ sorgenfrei, schreiben konnte.
Ich begrüße in dieser Runde: Frau Dr. Margret Franz, Werkleiterin von JenaKultur. Herrn Alexander von Witzleben, den Vorstandsvorsitzenden der JENOPTIK AG, einen der Sponsoren dieser Ausstellung, die es uns ermöglicht haben, Ihnen Schiller auf diese Weise näher zu bringen. Zu meiner Linken Till Noack, der Geschäftsführer der Stadtwerke Jena-Pößneck GmbH, gleichfalls ein verlässlicher Sponsor vielfacher Bemühungen des Palmbaum-Vereins in den vergangenen Jahren, und Herr Professor Dicke, Rektor der Friedrich-Schiller-Universität, die den Namen des Dichters seit nun schon mehr als 60 Jahren trägt.
Ich komme gerade aus Wandersleben, wo wir eine neue Gedenkstätte für einen Barockautor einrichten, und dort traf ich den für Museen verantwortlichen Sekretär im Kultusministerium. Mit der Zahl, die er mir genannt hat, möchte ich beginnen: Vor 10 Jahren standen ihm 59 Millionen DM für 200 Museen zur Verfügung – in diesem Jahr sind es noch 5 Millionen Euro. Das ist ein großes Problem. Wie stellt es sich für Jena dar, Frau Dr. Franz?

Dr. Franz: Natürlich stellt sich das auch für Jena dramatisch dar. Jetzt nicht gerade in punkto der städtischen Museen, da wir in der glücklichen Lage sind, vom Land keine institutionelle Förderung zu erhalten und das auch nicht nötig haben. Ich sage das jetzt vielleicht etwas zugespitzt, aber mitunter ist es auch ein Segen, wenn man nicht immer von solch einem Geldtopf abhängig ist, sondern von Mal zu Mal bei Projekten Fördermittel beantragen kann. Viele andere Museen in unserem Lande haben da viel schwerer an dieser Bürde zu tragen. Wenn ich an die Heidecksburg denke, die eine hohe institutionelle Förderung bekommen hat und jetzt natürlich in schwere Nöte geraten ist. Das ist uns Gott sei Dank erspart geblieben. Allerdings ist es auch nicht so, dass unser Eigenbetrieb JenaKultur – wozu die Jenaer Philharmonie, das Volkshaus, die Kulturarena, die städtischen Museen, die Musik- und Kunstschule, die Volkshochschule, die Touristinformation und die Stadtfeste zählen – nicht auf einen Zuschuss angewiesen wäre. Ich möchte einmal verdeutlichen, wie diese Institutionen, die unter unserem Dach vereinigt sind, finanziert werden. Der Eigenbetrieb JenaKultur hat über 200 Mitarbeiter und ein Budget von etwa 17 Millionen Euro. Etwa 9 Millionen schießt die Stadt Jena zu und das Land so gerade mal 2 Millionen. Also, Sie sehen, dass der Rest selbst erwirtschaftet werden muss. Das ist natürlich eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, und gerade aus dem Grund sind wir mehr denn je auf die partnerschaftlichen Beziehungen zur Wirtschaft und Wissenschaft, zu den hier am Ort ansässigen Betrieben und Unternehmen angewiesen. Aber ich will nicht in eine große Jammerei verfallen. Deswegen sind wir heute nicht hier.
Ich bin der Meinung, wenn das Geld der öffentlichen Hand nicht mehr reicht, dann muss man sich nach anderen Partnern umschauen, und man muss auch überlegen, neue Strukturen zu wagen. Mit dem Eigenbetrieb JenaKultur haben wir das getan, und ich sage Ihnen, mir tut es bis heute, trotz der Diskussionen, die es in der Öffentlichkeit gibt, überhaupt nicht leid. Nicht eine Sekunde hat es mir leid getan, dass wir jetzt in der Lage sind, langfristiger zu planen, eigenständiger, eigenverantwortlicher mit dem Geld umgehen zu dürfen und auch selbst die Personalhoheit zu haben. Das ist ein großer Vorzug gegenüber der Situation, in der wir uns vorher befanden. Im Übrigen hatte auch Friedrich Schiller so seine Probleme, wenn es darum ging, Kunst und Geld miteinander in Verbindung zu bringen. Auf der einen Seite war er ständig in Geldnot, auf der anderen aber hat er auch darüber nachgedacht, ob es denn gut sei, wenn Poeten und Künstler vom Staate besoldet werden. Ich habe da ein schönes Zitat in einem Brief an Goethe gefunden, wo er gerade diesen Zwiespalt darlegt. Und zwar schreibt er am 12. Juli 1799: ‘Die Poeten sollten immer nur durch Geschenke belohnt, nicht besoldet werden. Es ist eine Verwandtschaft zwischen den glücklichen Gedanken und den Gaben des Glücks, beide fallen vom Himmel.’ Daran sieht man, dass er wohl auch darüber nachgedacht hat, was es denn bedeuten würde, wenn es Kunst und Kultur zu gut ginge. Vielleicht wären sie dann nicht mehr in der Lage, wirklich Ideen zu produzieren. Ich will damit natürlich nicht behaupten, dass wir gar kein Geld bräuchten, das sicherlich nicht. Aber ich möchte auf diesen Zwiespalt hinweisen, in dem Schiller selbst gelebt hat.

Dwars: Vielen Dank. Herr Noack, Sie stehen nun auf der anderen Seite, auf der der Sponsoren, und gewiss werden Sie fast täglich eine Flut von Förderanträgen erhalten. Können Sie uns einen Überblick geben, und uns sagen, wie Sie darauf reagieren?

Noack: Ja, bei den Stadtwerken kommen wirklich viele Anfragen an, wobei das nicht alles Fragen nach Sponsoring sind, viele fragen auch nach Spenden. Man muss das, glaube ich, unterscheiden. Das, was Schiller gesagt hat, das hat eine besondere Brisanz. Aber in gewisser Weise gilt das natürlich auch für das Sponsoring. So ein Sponsor hat immer Ansprüche, er will etwas erhalten für sein Geld. Und er will zumindest, dass sein Unternehmen oder das, was er vertritt – in unserem Fall wäre das also die kommunale Energiewirtschaft oder die Wasserversorgung –, nicht in Konflikt gerät mit dem, was er da sponsert. Ein Sponsor hat auch Ansprüche an denjenigen, dem er das Geld gibt. Das sieht anders aus bei Spenden, und das sieht anders aus beim Mäzenatentum. Um ein solches hat es sich ja bei Schiller gehandelt. Und viele der Sponsoring-Anfragen, die wir erhalten, richten sich nicht darauf, den Stadtwerken eine Leistung anzubieten, wie es beim Sponsoring als wirtschaftliches Geschäft zwischen Partnern üblich ist. Nicht: ‘Ich biete Dir ein positives Image, in welcher Form auch immer, zum Beispiel, dass der FC Carl Zeiss Jena in die Regionalliga aufsteigt oder dass die Kulturarena so zum Sommermittelpunkt in Jena wird’, sondern sie sagen: ‘Mir geht’s als Verein so schlecht, bitte gib mir Geld.’ Und da erreichen uns wirklich sehr, sehr viele Anfragen. Wenn die öffentlichen Mittel abnehmen, versuchen die Vereine, sich auf andere Art und Weise über Wasser zu halten. Wir tun da relativ viel, aber wir haben nur ein streng begrenztes Budget, das natürlich bei weitem nicht ausreicht. Und wir achten darauf, dass beim Sponsoring Leistung und Gegenleistung in einem angemessenen Verhältnis stehen.

Dwars: Vielen Dank. Wie reagiert man, wenn sich diese Anträge häufen? Und wenn man selbst kein wachsendes Budget hat. Eine Möglichkeit wäre dann das Gießkannenprinzip: Jeder bekommt mal etwas ab. Oder wagt man zu sagen, wir fördern einen bestimmten Teil von Kultur, einen anderen Teil fördern wir nicht. Das ist der unbequemere Weg, für den man Kriterien braucht. Welchen Weg wählen Sie, Herr von Witzleben?

von Witzleben: Also erst einmal muss man sagen: Für uns gehört das Sponsoring, in welcher Form auch immer, zu unserem Selbstverständnis als Unternehmen hier am Standort. Wir sind eingebettet in die Stadt. Man kann den wirtschaftlichen Erfolg von Jena sicherlich nur verstehen, wenn man über 100 Jahre zurückgeht, wenn man die enge Verbindung der hier ansässigen Optikindustrie – die ja heute mehrere Namen trägt – mit der Universität, mit der Philharmonie und unter Umständen auch mit Weimar sieht. In Weimar ist ja Carl Zeiss zum Beispiel geboren worden, was die wenigsten wissen. Deshalb haben wir gesagt, wir müssen hier vor Ort wirken. In Baden-Baden oder in Nürnberg oder in München ist unser kulturelles Engagement nicht notwendig.
Ich bekomme jede Menge Anfragen, aus Passau jüngst, und da habe ich gesagt, die Münchener Rück ist näher an Passau als wir. Man war über die Absage natürlich enttäuscht, aber wir sagen deutlich: Das tun wir nicht. Wir werden hier gebraucht.
Hier müssen wir dann ‘klotzen’ und nicht ‘kleckern’. Das ist eine ganz klare Strategie. Es bringt mehr, ein Thema vernünftig über mehrere Jahre mit größeren Beträgen zu unterstützen, als irgend etwas zu atomisieren, wo dann keiner etwas davon hat. 1000 Euro für ein kleines Projekt zu geben, mag für jemanden viel sein, aber es nimmt den großen Topf weg, und dadurch bewegt man nichts mehr. Das ist unsere klare Strategie. Im vergangenen Jahr zum Beispiel sorgte die Oper ‘Die unendliche Geschichte’ – diese Uraufführung in Weimar, wo wir auch unsere Technologie mit einbringen konnten – bundesweit für Furore. In diesem Jahr war das die Ausstellung in der Nationalgalerie in Berlin, an der auch der aus Chemnitz stammende Künstler Carsten Nicolai mit einer Technologie von uns teilgenommen hat. Da haben wir natürlich die Effekte und deswegen ist ganz klar: Lieber weniger Themen, aber dafür mehr Qualität.

Dwars: Beim Thema Sponsoring denkt man sofort an die Kultur. Nicht aber an Wissenschaft. Herr Professor Dicke, könnten Sie uns den Bedarf aufzeigen, den die Universität verspürt, weil er nicht mehr mit staatlichen Mitteln gedeckt wird?

Prof. Dr. Dicke: Der Bedarf ist in der Tat vorhanden und steigt auch. Wir müssen uns vielleicht im Unterschied zum Kultursponsoring und Kulturmäzenatentum ganz kurz vor Augen führen, dass die Universität zwei Primäraufgaben hat: nämlich Forschung und Lehre. Forschung und Lehre sind primär staatlich zu finanzieren, und doch haben wir in hohem Maße drittmittelfinanzierte Forschung. Wenn Sie sich etwa einen Golf anschauen, da stecken so um die 700, 800 Patente drin, das heißt jede Menge Forschung! Und das funktioniert über die Beantragung einzelner Projekte, in der Regel zwischen zwei oder fünf Jahren, für die es bei der DFG, der Volkswagenstiftung, der Siemensstiftung, bei einer ganzen Reihe von Stiftungen über ein Begutachtungsverfahren Gelder gibt. Das funktioniert natürlich nicht in der Lehre. Und hier haben wir ein strukturelles Problem in Deutschland, das doppelter Natur ist.
Erstens ist bekannt, dass die öffentlichen Haushalte schrumpfen und dass deshalb die Mittel, die für Forschung und Lehre zur Verfügung stehen, nicht mehr dieselben sind wie etwa noch vor zehn Jahren. Zweitens haben wir in Deutschland ein Problem, das uns die OECD Jahr für Jahr vorrechnet. Wir haben uns zu sehr auf staatliche Finanzierung verlassen und haben ein Defizit gegenüber anderen europäischen Staaten, erst recht aber gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika, was die private Finanzierung generell angeht. Damit meine ich nicht nur Wirtschaftsunternehmen, sondern private Finanzierungen generell. Hier ist der Punkt, wo wir sagen müssen, die Förderung von Forschung und Lehre ist auch eine gesellschaftliche Aufgabe, die gesellschaftlich autonom in die Hand genommen werden muss. So sind wir etwa beim Ausbau des orientalischen Münzkabinetts auf Mäzene angewiesen. Auch bei den so genannten Sekundäraufgaben, die eine Hochschule hat – also bei Kulturveranstaltungen, die ja dem Standort dienen, wenn wir etwa im Schillerjahr ‚Die Bürgschaft‘ von Schubert aufführen –, da müssen wir die Gelder dafür einwerben, und wir müssen schließlich für Qualitätssteigerungen in der Lehre private Beteiligungen gewinnen. Das ist das Umfeld, in dem die Universität auf Sponsoring, Mäzenatentum und auch auf Stiftungen angewiesen ist. Ein relativ neues Instrument, das in Deutschland noch keineswegs so weit verbreitet ist und für das die rechtlichen Rahmenbedingungen sich zwar verbessert haben, aber noch keineswegs so sind, wie sie sein müssten, damit wir zu messbaren Erträgen gelangen.

Dwars: Bevor wir auf die rechtlichen Rahmenbedingungen eingehen, lassen Sie uns etwas genauer über die Bedingungen für Sponsoring vor Ort reden. Wie sind Sie mit Jena zufrieden, Herr von Witzleben? Wodurch ist für Sie die kulturelle Landschaft Jena bestimmt? Was finden Sie interessant, was würden Sie sich anders wünschen?

von Witzleben: Kulturell möchte ich Jena und Weimar immer zusammen betrachten. Das liegt ein bisschen daran, dass ich in Weimar wohne – und das seit vielen Jahren – und hier arbeite. Ich denke, beide Städte bilden eine Einheit. Und wenn man an andere große Wirtschaftsstandorte denkt, so ist eine halbe Stunde Autofahrt nichts. Sie sind in einer amerikanischen oder in einer anderen europäischen Großstadt mal schnell zwei Stunden unterwegs, da sind die 25 Kilometer zwischen Weimar und Jena keine Entfernung. Und dazu kommt eine traditionelle geistige Verbindung.
Grundsätzlich muss ich aber sagen, dass es eigentlich fast schon zuviel an kulturellen Angeboten auf diesem engen Raum gibt. Ich habe so ein wenig Sorge, dass der Bestand etwas zersplittert wird und darunter die Qualität des Angebotes leidet. Ein Beispiel: Ob in Erfurt eine Oper notwendig gewesen wäre oder ob man nicht die Mittel lieber in Weimar konzentriert hätte, um eine Oper von europäischem Format daraus zu machen? Das hätte ich wahrscheinlich besser gefunden, weil (Applaus) – Dankeschön – weil es im europäischen Maßstab jedem zuzumuten gewesen wäre, von Erfurt nach Weimar zu fahren oder von Jena nach Weimar. Davon hätten wir mehr, vor allem eine höhere Qualität. Was ich interessant finde – und das sollte man auch nicht unterbewerten – das ist die Kultur, die sich in Weimar und Jena ohne öffentlich-rechtliche Unterstützung herausbildet. Ich will das nicht Subkultur nennen, das klingt abwertend. Da sind hochinteressante Kabaretts. Da gibt es Galerien, Aufführungen, viel mehr als ich persönlich nutzen kann oder die meisten von uns nutzen können. Hier sollte man sehr genau hinschauen. Ich glaube, hier entsteht vieles, was uns in Zukunft noch begeistern wird. Nehmen Sie zum Beispiel den Leipziger Künstler Neo Rauch. Er macht im Moment Furore in den USA. Das ist natürlich nicht die klassische Schule, aber seine Arbeiten sind im Grunde genommen aus einer Kultur des Mangels entstanden und ich glaube, dass wir in diesen Randzonen viel Kreativität begegnen können, einer großen Kraft. Ich denke, wir sollten alle dort hinschauen, weil natürlich der Prophet im eigenen Lande nichts gilt. Wenn ich im Ausland bin, da stelle ich oft fest, dass die Leute begeistert sind von dem, was wir an kulturellem Angebot haben, während wir hier jammern – und deswegen: Etwas mehr konzentrieren und ruhig zu den Themen hinschauen, die nicht öffentlich-rechtlich im Mittelpunkt stehen.

Dwars: Jena-Weimar war für Goethe eine Doppelstadt. Heute ist diese Einheit eine große, aber doch problematische Aufgabe, wie die reale Zusammenarbeit mit der Stiftung Weimarer Klassik zeigt. Sie könnten ein trauriges Lied davon singen, Frau Franz?

Dr. Franz: Also ganz so rosig kann ich das leider nicht darstellen, wie ich es gerne möchte. Ich will es jetzt auch nicht kritisieren, aber ich denke, da stecken noch sehr große Potenziale, die wir heben müssen, um dem Namen Doppelstadt Jena-Weimar gerecht zu werden.
Also von uns aus steht das Angebot auf jeden Fall, und ich denke, es sollte nicht nur aus der Not heraus geboren werden, dass wir zusammenarbeiten. Es sollte auch ein freiwilliges Zusammengehen sein, und gemeinsam sollten wir das unterstützen, was an Stärken in beiden Städten vorhanden ist und damit auch dazu beitragen, dass wir diese Flexibilität wahren, die wir brauchen in der Kunst, auch die Freiheit, um wieder auf Schiller zurück zu kommen. Er hat ja gesagt ‘Kunst ist eine Tochter der Freiheit’. Wir brauchen diese Freiheit, weil wir uns sonst mit lauter Fixkosten die Kehle zuschnüren und überhaupt kein Geld mehr dafür haben, um neue Projekte ins Leben zu rufen. Das Land Thüringen gibt für Kultur 123 Millionen Euro aus. Davon sind nur 4 Prozent für Projekte bestimmt. Alles andere sind feste Kosten für Personal beziehungsweise Immobilien, und das macht es natürlich ganz, ganz schwer, für eine flexible Kunst und Kulturszene zu sorgen, wenn dafür lediglich 4 Prozent zur Verfügung stehen, und genau diesen Fehler dürfen wir in Jena nicht wiederholen. Mit der Gründung des Eigenbetriebes ist bei uns eine viel größere Flexibilität entstanden, um auch auf Anforderungen der Zeit reagieren zu können und um diese Szene unterstützen zu können. In diese Richtung müssen wir weiterdenken.

Dwars: Anders gesagt: wir müssten Kräfte vereinen, in größeren Projekten, die offen sind für das Andocken anderer Unternehmen. So etwas haben wir ja hier versucht, in der Goethe-Galerie, an dieser Ausstellung und ihrem Rahmenprogramm sind mindestens 20 Partner beteiligt. Wie sind die Erfahrungen der Universitäten, Herr Professor Dicke? Gibt es eine Zusammenarbeit mit der Bauhausuniversität, die kulturelle Effekte haben könnte für beide Städte? 1859 wurde das Schillerjahr gemeinsam vorbereitet. Jetzt scheinen wir weit davon entfernt zu sein, aber wenn wir die Doppelstadt als Auftrag klar formulieren, dann kommen wir vielleicht auch wieder zu Lösungen.

Prof. Dicke: Ja, in der Tat, wir haben Kooperationen mit Weimar, die sich auch im kulturellen Bereich hier in Jena niederschlagen. Das letzte Ereignis, das mir erinnerlich ist, war ein Benefizkonzert des Rektors der Weimarer Musikhochschule ‘Franz Liszt’ hier in Jena. Wir haben vor drei Wochen zusammen gesessen und haben anlässlich der jetzt bevorstehenden Wiedereröffnung der Rosensäle in Jena, die einst ein klassischer Ort für Kammermusik gewesen sind, darüber nachgedacht, in welcher Weise man in wissenschaftlicher und künstlerischer Kooperation Aufführungen, die in Weimar an der Musikhochschule zusammen eingeübt werden, auch nach Jena bringen kann, und wie dies wissenschaftlich an beiden Orten zu betreuen wäre. Ich glaube, dass damit deutlich ins Bewusstsein gerückt werden kann, was Herr von Witzleben eben angesprochen hat: Es war im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine absolute Selbstverständlichkeit, dass Weimar und Jena eine Einheit bilden. Übrigens würde ich das Weimarer Land und Teile des Saale-Holzland-Kreises noch mit einbeziehen. Wenn man sich anschaut, was in Dornburg los ist oder was an Konzerten auf dem Land organisiert wird. Da ist wirklich ein reiches Kulturleben in Thüringen vorhanden, das von privater Hand gestaltet wird. Aber solche Kooperationen sind unbedingt erforderlich, um das zum Tragen zu bringen, was wir wirklich haben, und ich denke, das müssen wir auch mit anderen Hochschulen und Universitäten nicht nur in Thüringen tun, sondern großräumiger denken, zum Beispiel in der Verbindung mit Leipzig und Halle.

Dwars: Herr Noack, welche Schwerpunktsetzung würden Sie sich für Jena wünschen, welche kulturellen Veränderungen in der Zukunft?

Noack: Also, das Beispiel mit der Oper war ja klasse gewählt. Nur das gilt dann auch für die Philharmonie in Jena. Da kommt logischerweise kein Beifall (Lachen), hier in Jena. Die Frage kann man sich aber schon stellen angesichts des Haushaltsdefizits, das in Jena herrscht. Angesichts dessen, wie viele andere Projekte kaputt gehen, ist zu fragen, ob es nicht zumutbar wäre, die halbe Stunde nach Weimar zu fahren. Es leuchtet mir nicht ein, warum man sich in Thüringen nicht konzentriert und sagt: in Jena ist die Universität, da müssen wir keine zweite in Erfurt aufmachen, in Weimar gibt es die Philharmonie und die Oper, wir brauchen keine neue in Erfurt. Dort ist die Verwaltung.
Es könnte so viel zusätzliches Geld für unter anderem diese 200 Museen dadurch eingespart werden. Ich glaube, über kurz oder lang werden wir über solche Dinge reden müssen, und es wird auch kein Tabu mehr geben, so dass man sich fragt, brauchen wir in 25 Kilometer Entfernung bei insgesamt 160.000 Einwohnern zwei solch hochkarätige philharmonische Klangkörper? So unangenehm wie diese Diskussion hier in Jena dann sicherlich sein würde.
Etwas anderes ist mir noch wichtig. Carl August hat damals Goethe nach Weimar geholt, aus unterschiedlichsten Gründen, sicherlich auch aus Eitelkeit. Er wollte sich schmücken mit dem damals schon berühmten, aber immer noch sehr jungen Dichter. Schiller ist unter anderem deshalb nach Thüringen gekommen, weil Goethe da war und weil Carl August diesen Ruf verbreitet hat, einen Musenhof in Weimar gegründet zu haben. Goethe und Schiller wiederum haben so auf die Geschichte der beiden Städte Weimar und Jena gewirkt, dass unter anderem Zeiss sein Unternehmen hier gründen wollte. Das hat auch hundert Jahre später noch ausgestrahlt, und Zeiss und die Konzentration der Intelligenz hier in Jena haben heute die Ausstrahlung, dass gerade diese beiden Städte es sind, die nicht über gravierende Einwohnerverluste klagen, was ja ganz außergewöhnlich ist in Ostdeutschland und in Thüringen. Sie haben vorhin gefragt, ob es eine Rückwirkung auf die Wirtschaft oder das Geld gibt. Natürlich gibt es das. Dieser Ruf, eine innovative Stadt zu sein, eine Stadt, in der besonders kluge, frische Leute sich treffen und diskutieren, das spielt natürlich auch für die Wirtschaft und für die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt eine große Rolle.

Dwars: Wir haben bis jetzt eine Kunstsparte völlig vergessen, das ist das Jenaer Theaterhaus, das ja genau dieser Intention entspricht. Das eine andere Spielform bevorzugt, als etwa das Weimarer Nationaltheater. Hier wird die Frage konkret: Was fördern wir als spezifisch Jenaer Kultur? Gibt es etwas, das der Produktions- und Lebensweise dieser Stadt entspricht, dieser großen Ballung von technischer Intelligenz? Wir könnten sagen: ‘Die Großkultur ist in Weimar auf europäischem Niveau.’ Also machen wir hier so etwas wie ‚Subkultur’ oder ‚experimentelle Kultur’. Welche Chancen hat das Theaterhaus?

Dr. Franz: Das ist natürlich eine zugespitzte Frage. Ich denke, wir müssen uns schon überlegen, inwiefern wir uns von Weimar unterscheiden oder Weimar ergänzen. Es macht wirklich keinen Sinn, Weimar zu kopieren. Ich glaube, in vielen Sparten sind wir auch auf einem guten Weg dahin. Das Theaterhaus ist das beste Beispiel. Es ist eben nicht das übliche „Drei-Sparten-Theater“, sondern ein experimentelles Theater, das für Furore sorgt. Im Moment steht es oft in der Kritik, aber auch das spricht sich ja herum. Auch wenn ein Stück kritisch behandelt wird, spricht man darüber, und so muss es auch sein. Das bringt einen gewissen Geist in die Stadt, man redet über Kunst und Kultur, über die Künstler, ob sie einem gefallen oder nicht. Das ist es, was Jena auch auszeichnet, dass Kunst und Kultur sehr eng mit den Menschen verbunden sind, die hier leben. Das sollten wir auch weiterhin fördern, und in diese Richtung geht unsere Profilierung, um uns damit ein wenig von Weimar zu unterscheiden und das dortige Angebot zu ergänzen.

Dwars: Ich denke, ein besseres Schlusswort können wir nicht finden. Wir hatten uns vorgenommen, in 30 Minuten einen Spannungsbogen aufzubauen. Ich hoffe, er beschäftigt sie noch weiter. Denn wir haben nicht nur Probleme aufgehäuft, sondern auch versucht, Lösungswege zu zeigen, Perspektiven zu öffnen. Ich danke Ihnen herzlich – dem Publikum für die Aufmerksamkeit, meinen Gesprächspartnern für ihre Bereitschaft, sich auf ein so seltsames Ansinnen einzulassen: ein Nachdenken über Kultur im Konsumtempel. Wenn das Schule macht!

Aus: Palmbaum ~ Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 1+2/2005


Matthias Biskupek
Hofrat Schiller in zwiefacher Ausfertigung

Schillerstraße und Johann-Sebastian-Bach-Straße bildeten in Mittweida einen rechten Winkel. Genau in diesem Winkel wohnten wir vor fünfzig Jahren: 1 Hinterhof, 1 Ofen, 2 Zimmer, 2 Kinder, 2 Eltern. Ein Fenster zum Schiller, ein Fenster zum Bach. Später lernte ich die Talsperrenstraße, den Boleslaw-Bierut-Platz, den Bremer Hof und die Marx-Engels-Straße, vormals Königin-Luise-Straße, Straße der SA, Adolf-Hitler-Straße, Schwarzburger Straße und Stalinstraße kennen. Vor zwei Jahren zog ich wieder in eine Schillerstraße, jene in Rudolstadt: alle Fenster zum Hain, zur Käseglocke, zum Gymnasium Fridericianum, zur Großen Allee. Das Haus hatte mal jenen Greifenverlag beherbergt, der Feuchtwanger und diverse Kohlrabiapostel druckte; Bücher zum Pendeln nicht zu vergessen.

Wer in Rudolstadt strandet, muß sich mit Schiller einlassen. Als die zweihundertste Wiederkehr der Erstbegegnung Goethes und Schillers gefeiert wurde, die bekanntlich in der Rudolstädter Schillerstraße stattfand, blieb mir nichts anderes übrig, als für eine Zeitschrift, die auf den seltsamen Namen „Die Weltbühne“ hörte, einen Text unter dem Titel „Zirkel Schreibender Klassiker“ zu verfassen. Wir absolvierten gerade das Jahr 1988 und ich lebte in erwähnter Marx-Engels-Straße. Also teilte ich mit, dass man bei Renovierungsarbeiten unter der erneuerten Türschwelle des Schillerhauses Notizen von einer bislang Unbekannten gefunden habe, eine Dame aus dem Umfeld der Pauline Gotter, die sich darüber mokierte, dass Schiller während seines Urlaubs in Volkstedt als eingeschriebenes Zirkelmitglied galt, bloß, damit die Beulwitzen einen mehr melden konnte. Wir hören den Origi-nalton 1988:

„Alle taten so, als hätten sie grad Schillers Griechengedicht im ‚Teutschen Merkur‘ entdeckt. Hatten sich wunder wie. Der ‚Merkur‘ ist auch so ein Blatt, wo man nur rankommt, wenn man Leute bis Weimar hoch kennt (...) Der angesagte Kulturmit-arbeiter war der Ketelhodt. Ließ sich wahrscheinlich bloß aus Pflichtgefühl sehen. Bestimmt hätte der lieber eine Jagd mit dem Prinzen und dem Fürststellvertreter mitgemacht. Oder er wollte sich umhorchen. Man weiß ja nie, was die für Aufträge haben.

War nervend, wie alle von ihren Veröffentlichungen plapperten. Dabei weiß man doch, wie das läuft. Die Beulwitzen kriegt ihre dithyrambischen Anapäste unter, weil sie mit Schiller scharmutziert. Die hatten mal was miteinander. Sogar Xenien sollen sie probiert haben, heimlich, wenn der Beulwitz außer Haus war. Xenien! Zu zweit! (...) Dann kam der Stargast mit einem Schwarm Anbeterinnen und Jünger. Natürlich die Schardt, die Piepsmaus, wieder dabei. Es war bloß der Goethe und ich dachte schon wunder wer. Angeblich hatten der und Schiller sich noch nie gesehen. Na, ich weiß nicht. In den Journalen werden sie doch dauernd alle beide gedruckt. Andere kommen da überhaupt nicht ran. Ich bekomme nicht mal eine Antwort auf meine Manuskripteinsendungen.
Schiller kriegte einen roten Kopf zu seinen roten Haaren und Goethe fing an, sich endlos über Italien zu verbreiten. Schön für ihn, dass er schon mal da war! Angeblich hat er ja seine Aufenthaltsgenehmigung für Rom erst gekriegt, als er schon dort war. Und dann reden sie von einem allergnädigst-grossherzoglichen Zweijahresvisum. Man weiß ja, was beim Weimarer Hofver-band mit Pässen für Schindluder getrieben wird. Als ich mit der Beulwitzen mal zum Belvederer Klassiker-Seminar geschickt wurde – war auch bloß Zufall, sonst kommen wir Rudolstädter ja nie ran – hat sie gleich mit Wieland, dem ollen Knacker, poussiert und bums! hatte sie ihren Text im ‚Teutschen Merkur‘.
Goethe muß irgendwas mit einer Südlichkeitsdame in Italien gehabt haben. Ich merk das doch. Aber grad als ich nachhaken will, fängt der Ketelhodt eine Staats-Tirade an. Weil er nun schon mal da ist, will er doch bemerken, dass es eine enge Ver-bundenheit von Hofstaat und Künstlern gebe, dass nur durch die Rudolstädter Initiative sich die beiden Dichtergeniusse – der meinte bloß Goethe und Schiller – sich hier im Beulwitzschen Hause treffen konnten, was uns doch alle zu Dank an die segensreiche Fürstlich-Schwarzburgische Landesregierung ... na, das Übliche. Wahrscheinlich muß der immer so was sagen. (...)

Nun soll der Goethe doch erst mal sehen, wie das jetzt hier bei uns wieder langgeht. Der hat ganz offensichtlich Illusionen, dass sich hier allzu viel geändert hätte. Na hallo! Die werden dem in Weimar schon den Kopf wieder aufs thüringische Lan-desmaß bringen. Von wegen Süden! Die haben dort bestimmt keinen solchen Zirkel, wie wir in Rudolstadt!“

Soweit der Ton, den wir damals ganz frech unter dem Tisch hervorflüsterten. Wir waren arm dran, weil wir alles reichlich ausnutzen mussten, um ein Verhältnis zu unserm Vaterlande deutlich zu machen. Also hatte auch Schiller dran zu glauben, und unser sanftes Missbehagen zu illustrieren. Kaum fünfzehn Jahre nach dieser Publikation ereilte mich bereits wieder ein Auftrag. Es gibt im Ort eine Schillerschule, die einst nach Schillers Tochter benannt wurde, nun aber doch den Meister höchstselbst als Namensgeber auf ihr Schild geschrieben hat. Dort müssen wichtige Bürger alljährlich eine Schillerrede halten. Offensichtlich waren mittlerweile schon alle wichtigen Bürger aufgebraucht – ich war dran. Da ich kaum etwas über Schiller wusste, gelang mir eine vermutlich passable Rede – sie war ja für Schüler gedacht, die auch kaum was wissen. Inzwischen wirft das Jubilä-umsjahr seine Veröffentlichungen voraus – und wer in der Schillerstraße wohnt, muss zumindest die wichtigsten lesen. Ich tue das mit Fleiß und wenig Sachverstand – und schaue mit Wehmut auf meine unbedarfte Rede von einst.
Sie würde mir heute nicht mehr gelingen, drum setze ich sie abschließend hierher, um damit zu beweisen: Was wir früher nicht wussten, trug reiche Früchte. Was wir aber heute schweißtreibend erarbeiten, wird nur dürre Ernte uns in die Scheuer fahren. (s.a. „Gesammelte Werke“ v. Schiller)

Der mehrfarbige Schiller
Eine Rede für die Schillerschule zu Rudolstadt am 29.11.2002

Ihr kennt – Sie alle kennen – die Schillerbüste. Schillers Kopf und Hals, vom Herrn Hofbildhauer Johann Heinrich Dannecker vor knapp zweihundert Jahren modelliert, in Ton oder Gips, in Marmor oder vergoldetem Blech ausgeführt. So steht er in vielen Schillerstätten herum: In Weimar natürlich, auf der Schillerhöhe in Volkstedt und in allen Andenkenläden mit Klassik-Nippes. Im allgemeinen ist diese Schillerbüste einfarbig, und meistens weiß. Marmorn. Gipsern.

Schiller war aber in Wirklichkeit mehrfarbig. So wie lebendige Menschen halt nicht einfarbig sind. Vielleicht war er nicht direkt buntgefärbt – und gepierct wohl auch nicht: Schiller als Punk wollen wir mit Rücksicht auf den Geschmack gesetzter Bürger nicht ausmalen. Ja, AUSMALEN.

Aber wir stellen uns seine Büste als wirkliches Gesicht vor: Die Nase etwas schärfer und höckeriger, mit sanfter Knolle vorn dran, nicht so edel griechisch-römisch, wie bei Herrn Dannecker; die Augen graublau, das Haar rot und nicht sonderlich ge-zähmt, also voller Wirbel, eine Menge Sommersprossen auf der blassen Haut ... Bis vor ein paar Jahren gab es in Deutschland den Spruch: Rote Haare, Sommersprossen, sind des Teufels Volksgenossen! Ist dieser Reim noch immer üblich? Vielleicht wurde Schiller als Junge ähnlich gehänselt? Außerdem hatte er einen zu langen Hals; der ganze Kerl war schlaksig, wie große Leute manchmal sind – Schiller war für damalige Verhältnisse sehr lang. Ein Freund beschreibt ihn als eine Art Storch, wie er, „ohne die Knie recht beugen zu können“, durch die Welt stakst. Wer seine Knie nicht gut beugt, wirkt leicht lächerlich – obwohl doch die Verbieger und Verbeuger die Lächerlichen sind.

Als Schiller mit knapp vierzehn Jahren auf die Karlsschule kommt, ist er noch durchschnittlich groß, Einsfünfundvierzig, wächst, bis er achtzehn ist, nur ein paar Zentimeter und schießt dann plötzlich auf die Länge von knapp Einsachtzig, zwanzig Zentime-ter höher als der Durchschnitt.

Woher ich das so genau weiß? Aus dem Buch „Vermessene Größen“, da werden auch alle Krankheiten Schillers beschrieben; ja VERMESSENE Größen; aus Büchern kann man erstaunlich viel herausfinden. Ihr könnt natürlich auch im Internet nach Schiller suchen - da bekommt Ihr siebenhundertsechzigtausend Eintragungen. Ihr erfahrt alles über einen Wein namens Schiller und über Schillerlocken; Ihr findet eine Schiller AG, die medizinische Geräte, herstellt und mit sphärischen Klängen sollt ihr zu Schiller-Weltreisen verlockt werden, die mit unserem Dichter nichts zu tun haben. – Vielleicht ist das gute alte Buch dann doch praktischer.

Wir kennen Schillers Längenwachstum, weil an der Karlsschule – einer Kadettenanstalt, wir würden sie heute als Offiziershoch-schule für Jugendliche, bezeichnen – die Zöglinge säuberlich vermessen wurden. Schließlich sollten sie mal ordentliche Soldaten werden. Dass Schiller dann kein braver Befehlsempfänger blieb – er war zeitweise Regimentsmedicus: die deutsche Sprache hat dafür auch das knackige Wort Feldscher – sondern so ziemlich das Gegenteil eines gehorsamen Militärs wurde, nämlich ein ungehorsamer Dichter, ein Schwärmer, ein aufmüpfiger Weltgeist – das hat vielleicht sogar mit jener Schule zu tun, die er absolvierte. Schulen bewirken gelegentlich das Gegenteil dessen, was sie bewirken sollen. Schillers Schule hat die Jugendlichen gewiss gefordert, aber vor allem sollte man gehorchen lernen, sollte ohne Widerspruch Befehle ausführen, sollte exakte juristische Texte verfassen, sollte einsatzbereit für den Krieg und den Sieg seines Landesvaters arbeiten.

Was aber machte Fritz Schiller? Er bewies Ungehorsam, überhörte Befehle, riss von der Schule aus, um sein Schauspiel „Die Räuber“ am Mannheimer Theater ansehen zu können; er verfasste keine exakten, sondern manchmal höchst unklare Texte, mit Aussprüchen wie: „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern!“ Die Schwestern könnten zu Recht sagen: Warum sind nur Brüder so einzigartig? Oder wie interpretieren wir seinen Spruch: „Ein jeder wird besteuert nach Vermögen.“? – Die Wiederein-führung der Vermögenssteuer wollen die großen und christlichen Parteien heutigentags so ganz und gar nicht. Wer das fordert, ist ein Neidhammel, der das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte behindert. - Ihr seht, Widersprüche beim Schiller, wohin man schaut. – Zum Krieg hatte er auch eine etwas andere Auffassung, als sein schwäbischer Fürst und der heutige Weltchef Bush: „Ein furchtbar wütend Schrecknis ist der Krieg. Er schont die Herde nicht und nicht den Hirten.“ In unserem Jahrhun-dert, da Kriege ja nicht mehr Kriege heißen, sondern „friedensschaffende Maßnahmen“, würde man Schiller sogleich des Anti-amerikanismus zeihen. Gut, er lässt auch auf die besorgte Mahnung von Frau Tell: „Die Knaben fangen zeitig an, zu schießen“, Herrn Tell antworten: „Früh übt sich, was ein Meister werden will.“ Wahrlich ein widersprüchlicher, ein überaus vielfarbiger Geselle, unser National-Dichter, den die heutigen Nationalen so gern für sich sprechen lassen.

Ich habe vorhin gesagt, Schulen bewirken manchmal das Gegenteil ihres Erziehungszieles – könnte es also sein, wenn unsere Schule intelligente, tolerante und weltaufgeschlossene Menschen ausbilden will – dass wir deshalb in der Wirklichkeit so viele ungebildete, engherzige und fremdenfeindliche Leute haben? Die Schule verkündet: Wir wollen keine Duckmäuser und Anpasser – aber wer wirklich widerspricht, hat es in keiner Schule dieser Welt leicht. Jugendliche wollen widersprechen können. Ein Schiller musste dem üblichen Kadavergehorsam an seiner Schule heftig widersprechen – mit seinem Drama „Die Räuber“. Er widersprach so überschäumend, dass es bei fast allen Aufführungen des Stückes damals zu Tumulten in den Theatern kam. Wem sollen aber heute die Schüler und Jugendlichen widersprechen? Wenn die Lehrer einmütig behaupten, der Widerspruch sei eine Triebkraft und nur Duckmäuser ließen sich alles gefallen? Sollen sie dem widersprechen und sagen: Ich will aber Duck-mäuser sein? Was soll ein Schüler machen, wenn ihm Toleranz anbefohlen wird? Soll er dem Befehl gehorchen oder soll er, um sich selbst zwischen den vielen Befehlen zur Fremdenfreundlichkeit zu finden, zum Ausländerhasser werden? Sind die bierdumpfen Gesellen, die manchmal auf unseren Straßen schlichte Sprüche grölen, etwa solche Leute, die sich im Widerspruch üben?
Nein, ich glaube, das sind eher Leute, die auf allen Kadettenanstalten dieser Welt brav ausführten, was ihnen anbefohlen würde, ob die Befehlspläne nun „Wüstensturm“ oder „Barbarossa“ heißen. Nur in einer relativ toleranten Gesellschaft wagen sie sich aus ihrem geistigen Hinterhalt heraus. Ist dann also unsere tolerante Gesellschaft schuld an allen dummen Jungs? Nein, auch das wäre zu einfach. Allerdings ist mir eine befohlene Fremdenfreundlichkeit – man kann auch Gastfreundschaft, Herz-lichkeit, Neugier auf den andern, für das Wort Fremdenfreundlichkeit sagen – mir ist eine befohlene Fremdenfreundlichkeit jedenfalls lieber, als eine gestattete, eine von den ach so liberalen Regierungsonkels tolerierte Ausländerfeindlichkeit.

Ihr seht, man kommt auf sehr bunte Gedanken, wenn man über den ollen Schiller nachdenkt. Ich will zum Nachbarsmenschen Schiller zurückkommen, zum mehrfarbigen, der so ganz und gar nicht aus Marmor oder goldfarbenem Blech zu sein scheint. Drum ein Letztes für heute zum Nachdenken: Wenn der Schiller nun überall in Marmor herumsteht, muss man doch denken, aus seinem Munde tönte nur ein wohlgefälliges Deutsch. Voll und rund die Selbstlaute, klar und scharf die Mitlaute. Glaubt doch das nicht! Er hat schwäbisch gesprochen, dass es nur so ein Graus war. Natürlich bemühte er sich, je älter er wurde, um das sogenannte Hochdeutsch – in der Jugend aber schwäbelte er heftig. Ein rothaariger, sommersprossiger Schwabe – Ihr wisst ja selber, wenn die chicen und schnellen Reporter im Fernsehen reden, wie hochdeutsch und perfekt bei denen alles klingt. Aber manchmal befragen sie auch normale Leute – zum Beispiel jemanden aus Thüringen, gleich von nebenan: Wie seltsam, wie komisch, einerseits merkwürdig vertraut, andererseits lächerlich hört sich das an! Nun stellt Euch vor, Schiller würde von einem dieser wendig-zackigen Journalisten befragt, er müsste bei Beckmann oder gar bei Vera am Mittag Rede und Antwort stehen. Und dann hängt da so ein zaundürrer Kerl herum und schwäbelt ...

Ich wünsche Euch, Ihnen, uns, mir auch, weniger Respekt vor Marmor und vergoldetem Blech; ich will gern daran glauben, dass dahinter immer jemand steckt, der Sommersprossen hat, schwäbisch redet, herzlich gern widerspricht und neugierig auf Fremde ist.

(November 2004)

Aus: Palmbaum ~ Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 3+4/2004